Das Internet vergisst nie
Onkel Tom’s Hütte fesselt mich, obwohl Harriet Beecher Stowe die Sklaverei gutmeinend, aber rührselig von oben herab beschreibt. (In den USA spricht man vom Onkel-Tom-Syndrom).
Dass einer als Kanzler kandidiert, der in der Jugend lange Haare hatte und zum Umsturz des Kapitalismus aufrief, finde ich völlig unproblematisch.
Und die Mona Lisa hat durch die Erkenntnis, dass Leonardo da Vinci in einen Sodomie-Prozess verwickelt war, nichts von ihrem Zauber verloren.
Leben wir in einer Gesellschaft, die immer unerbittlicher
wird?
Ein Internet, das nie vergisst, funktioniert gut.
Eine Gesellschaft, die nie vergisst (besser: vergibt), funktioniert nicht gut.
Bei meiner Lektüre bleibe an
folgender Passage hängen:
Was ist an
der Gegenwart, dass sie so leicht über die Vergangenheit urteilt? Was
berechtigt uns dazu?
Wir sind die Gegenwart, das ist die Vergangenheit – für die meisten reicht das.
Und je weiter zurück die Vergangenheit reicht, desto attraktiver wird die
Vereinfachung.
Wie grob auch unsere Anschuldigung, die Vergangenheit antwortet nie, sie
schweigt.
Als ich, in meinen Zwanzigern, Recht studierte, lernte ich, dass es,
geschichtlich, zwei Möglichkeiten gab, das Schweigen des Angeklagten zu
interpretieren:
Der Angeklagte ist ‘stumm durch Gott’ (physisch unfähig zu reden) oder ,stumm
aus Bosheit’ (schweigend, weil er sich nicht selbst beschuldigen will).
War der Beschuldigte ,stumm aus Bosheit’ durfte – in der alten
französischen Wendung – peine forte et dure (Folter) angewendet werden.
Die Vergangenheit ist ,stumm durch Gott’, aber wir benehmen uns oft, als
wäre sie ,stumm aus Bosheit’. (Julian Barnes, The Man
in the Red Coat, p.168)
Da wandte sich Petrus an Jesus und fragte ihn: »Herr,
wenn mein Bruder oder meine Schwester mir Unrecht tut, wie oft soll ich ihnen
vergeben? Bis zu siebenmal?«
Jesus antwortete: »Nicht nur siebenmal! Ich sage dir: Bis zu
siebenundsiebzigmal!« Matthäus 18, 21f
Philipp Roth
philipp.roth@kgbb.chphilipp.roth@erk-bs.ch
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