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Es werden Posts vom Mai, 2022 angezeigt.

in der Luft hängen

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Seltsam, dass mir der Auffahrtstag immer bedeutungsvoller wird. Konnte damit früher gar nichts anfangen. Jetzt kleben auch Tage danach noch ein paar Gedankenfetzen daran. Weshalb? Das physikalische Wunder der Himmelfahrt besteht drin, dass der Auferstandene diesen Aufzug in den Himmel nimmt. Wie soll man sich das vorstellen? Das psychologische Wunder der Himmelfahrt besteht darin, dass der Abschied die Zurückbleibenden (die Hinterbliebenen) nicht leer und traurig, sondern erfüllt und fröhlich zurücklässt. ,Sie verbrachten den ganzen Tag im Tenpel und lobten Gott.' Lukas 24, 53 Während mir früher Wunder I im Weg stand, lässt mich heute Wunder II bei der Geschichte bleiben. Ich erinnere mich an Besuche, die mich glücklich zurückliessen, weil sie endlich gingen. Und ich erinnere mich an Besuche, die mich glücklich zurückliessen, weil die gemeinsame Zeit einfach schön gewesen war. Der Besuch war ein Geschenk. Zwar setzte der Abschied der gemeinsamen Zeit ein Ende, doch nicht dem Gesche

keine andere Wahl

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Kirche Wiblingen, Deckenfresko 'Christi Himmelfahrt', Januarius Zick Mitte des 15. Jahrhunderts war das Reich des Herzogs von Burgund, Philipp des Guten, auf mehr als hunderttausend Quadratkilometer mit knapp drei Millionen Einwohnern angewachsen und erstreckte sich vom heutigen Burgund bis nach Holland. Statt einer Hauptstadt bevorzugte er es, sich im Laufe des Jahres in den verschiedensten Ecken seines Reiches aufzuhalten und zu zeigen. Mit wachsendem Reich eine immer schwierigere Sache. In Holland ging zum Beispiel 1464 das Gerücht um, er sei schon seit 10 Jahren verschollen - sei also selber nur noch ein Gerücht.  Philipp der Gute sah sich gezwungen, sich bei seinen Untertanen zu entschuldigen. Er liess ihnen eine Nachricht zukommen: ,Da wir viele andere Gebiete zu regieren und zu beschützen haben, bleibt uns keine andere Wahl, als in möglichst vielen Orten und Ländern zu sein.'  * Ich lese diese Geschichte über meinen berühmt-berüchtigten mittelalterlichen Namensvette

Maultierperspektive

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Was ich alles weiss, wovon meine Grosseltern noch keine Ahnung hatten: Telefonieren übers Internet. Eine Skibindung einstellen. Nachhaltig einkaufen. Eine Guacamole machen. Und was ich alles nicht mehr weiss, wovon meine Grosseltern grosse Ahnung hatten: Stachelbeeren einmachen. Eine Leiter zimmern. Am Ruf des Tiers im Stall hören, wenn was nicht in Ordnung ist. Beim Gemüsepflanzen den Boden und den Himmel lesen. Die ganz andere Welt, scheinbar Flugstunden entfernt, sitzt in Wirklichkeit näher, als ich denke. Harrys Mutter kauft ein Maultier. Sie sind arm. Die $20, die sie für Pete bezahlt, sind ein kleines Vermögen. Pete bleibt alle hundert Meter stehen. So wie Maultiere manchmal einfach stehen bleiben. Scheinbar grundlos. Sie kann machen, was sie will. Erst nach eine Pause geht es weiter. Die nächsten hundert Meter. Harry erzählt, dass Maultierhändler damals Meisterkenner ihre Tiere waren. Sie konnten das Alter eines Tieres mit einer Genauigkeit von ein bis zwei Jahren schätz

Wurmperspektive

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Im Vorübergehen erinnern sie mich an die gotischen Zahlen an Kanzeln und Türen alter Kirchen, altrosa getüncht. Diejenigen, die nicht von Autos plattgefahren wurden, verdorrten unterwegs. Todeswüste Asphaltstreifen.  Was erwarten Regenwürmer von der anderen Seite der Strasse? Was zwingt sie mitten am Tag auf den glühenden Asphalt hinaus? Wählen sie ihren Weg oder wählt der Weg sie? Ich bin schon mit einem grossen Schritt darüber hinweg, als mir bewusst wird, dass sie sich da eine gotische Vier bewegt hat. Ich gehe weiter. Liegt es nicht in der Natur der Natur, dafür zu sorgen, dass alles seinen Lauf nimmt? denke ich. Manche schaffen es. Andere nicht. Empfindet ein Regenwurm eigentlich Schmerzen, wenn er sich windet? Graut es ihm, wenn er auf dem Asphaltgrau stecken bleibt? Ein paar Schritte weiter kehre ich um. Gehe über ein paar Leichen zum sich noch windenden Regenwurm zurück. Nehme ihn von der Strasse und lege ihn auf der anderen Seite ins Gras. Ich glaube nicht, dass Regenwürmer wa

Die Bürger von Mariupol

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Die Nachrichten melden, dass es wieder ein paar Dutzend Frauen, Kinder und alten Menschen gelungen ist, dem seit Wochen belagerten und in Trümmer geschossenen Asow-Stahlwerk in Mariupol am schwarzen Meer zu entkommen. Es scheint ein Wunder zu sein, dem Vernichtungswillen der Invasoren auch nur ein paar Leben abzutrotzen. Unvorstellbar, was sie durchgemacht haben. Und wie das Erlebte sie für den Rest ihres Lebens verfolgen wird. Sie erwarten mich immer wenn ich ins Kunstmuseum der Stadt komme. Mit grossen Händen und nackten Füssen und Gesichtern, die ebenso ausdrucksstark wie leer sind, stehen sie im Innenhof, als warteten sie darauf, dass ich mich zu ihnen stelle. Um ihre Hälse und Hände wurden Stricke gelegt. Manchmal gehe ich um sie herum und versuche ihnen in die Augen zu schauen. Sie sind so gross und gleich wie ich und die anderen Besucherinnen und Besucher, die kommen und gehen. Im Jahr 1346 überquerte der englische König Eduard III. den Ärmelkanal und überfiel die französisc

Das Leben im Glauben, nicht im Schauen

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Unser Leben ist vom Glauben bestimmt, nicht vom Schauen... Paulus in der Bibel, 1. Korinther 5, 7 Ich ertappe mich dabei, wie ich beim Krieg an die Ukraine oft an die Menschen in Russland denke. Ich erinnere mich, wie ich bereits nach der gewaltsamen Annexion der Krim und des Donbass in einen Streit mit einem Bekannten geriet, der in Moskau lebt und mich hier beim Kaffee traf. Das für mich Ungeheuerliche war für ihn lediglich die friedliche Wiederherstellung eines natürlichen Zustandes. Putin war der starke Führer, der endlich den Mut hatte, das Richtige zu tun. Ich denken oft an ihn und frage mich, wie er wohl die heutigen Ereignisse sieht. Die Welt ist nie ,die Welt'. Die Welt ist immer nur ,die Welt, wie ich sie sehe.' Und das hat damit zu tun, was ich sehen kann, was mir gezeigt und berichtet - und was ich nicht sehen kann oder mir vorenthalten wird. Masha Gessen berichtet von den ersten Tagen nach Kriegsausbruch aus Moskau. Auf dem Puschkinplatz werden am ersten Kriegsta