Bleiben oder gehen?
Marci Shore und Timothy Snyder sind gegangen. Beide lehrten als Historiker des 20. Jahrunderts an der Yale University in New Haven / USA. Sie sind bekannt als Fachleute für den Totalitarismus des 20. Jahrhunderts in Osteuropa. Beim Ukrainekrieg geht ihnen ein ganzes Jahrhundert auf.
Bereits in der ersten Amtszeit von Donald Trump schrieb Snyder eine vielbeachtete Warnung: ,Über Tyrannei - 20 Lektionen für den Widerstand'. Das zerlesene Büchlein steht in meinem Regal.
Vorgestern jährte sich der Todestag von Dietrich Bonhoeffer zum 80. Mal. Als er 1939 ins Visier der Gestapo geriet, bedrängten ihn Freunde, sich in die USA abzusetzen. Er tat es widerwillig - und kehrte schon nach wenigen Wochen zurück. Er habe kein Recht, am Wiederaufbau Deutschlands mitzuwirken, meinte er, wenn er die Not der Menschen in Deutschland nicht mittrage.
In der ZEIT (14/25) schreibt Maci Shore, sie habe schon 2015 geahnt, dass das Auftauchen des lügenden Immobilienspekulanten aus New York in Washington furchtbare Konsequenzen haben würde. Das Muster von 'postfaktischer Politik', der Loslösung von der Realität, habe sie aus Russland bereits bestens gekannt. Sie hätten viel darüber nachgedacht, wo der beste Ort für die Kinder in den Teenagerjahren sei. Nach der Wahl 2016 hätten viele Freunde die ,stabilste Demokratie der Welt' mit ihren Checks and Balances beschworen. Eine Titanic könne ja nicht sinken. Nach den Wahlen im letzten Herbst hätten sie dann endgültig entschieden. ,Man geht besser zu früh als zu spät,' schreibt sie mit Blick auf 1933. Nun lehren beide in Toronto / Kanada.
,Vor Kurzem war ich noch einmal in New Haven, um einige meiner Studenten zu treffen. An der Columbia, der Tufts University und in Harvard wurden kürzlich ausländische Studierende festgenommen. Und ich fragte mich: Was würde ich tun, wenn ein Beamter der US-Einwanderungsbehörde käme, um eine meiner Studentinnen mitzunehmen? Würde ich aufstehen, schreien, die Szene filmen? Ich will glauben, dass ich mutig wäre. Ich will glauben, dass ich kämpfen würde. Aber die Wahrheit ist: Ich weiss es nicht. Und genau das macht mir Angst.'
Die Ehrlichkeit berührt mich. Shore in der Petrusfrage. Keine Prüfungsfrage aus einem Seminar, sondern eine existentielle. Als Jesus festgenommen wurde, blieb er als einziger seiner Freunde bei ihm und folgte ihm bis zu den Mauern der Macht. Dann verliess ihn der Mut. Darauf angesprochen, sagte er: ,Ich kenne ihn nicht.' Und der Hahn krähte. (Joh 18, 25-27)
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