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Es werden Posts vom April, 2023 angezeigt.

mitleidlos

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Vielleicht bleibe ich hängen, weil es so verwegen ist. In einer Zeit, die nicht empathisch genug sein kann, gleich im ersten Satz das Wort 'mitleidlos' in einem positiven Sinn zu verwenden, ist schön frech. Ein Fishermen's Friend für mein Hirn. Eine Grätsche in meinen Gewohnheitssprech. ,Den Protestantismus liebe ich, weil er so mitleidlos den religiösen Bedürfnissen der Menschen gegenüber ist,' heisst dieser erste Satz. Fulbert Steffensky beginnt so das Vorwort in seinem Buch 'Der Schatz im Acker'. In seinem früheren Leben war Steffensky katholisch. Vermutlich sieht er deshalb schärfer. Und kann mir von halbaussen sagen, was ich so zwar oft empfinde, doch selten auf den Punkt bringen kann.  Die Nüchternheit des Protestantismus war bei seiner Geburt ein wesentlicher Teil des Erfolgsrezepts. Statt den eigenen torkelnden Bedürfnissen, den vertrauten Strömen der Tradition und den sinnlichen Überwältigungstrategien kollektiver Zeremonien ausgeliefert zu sein, sollt

Herdenidylle

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,Ein Schaf kommt zum Coiffeur und sagt: Mäh!' Alle Jahre wieder nach Ostern: ,Hirtensonntag' (Misericordias domini) . Psalm 23 (Der Herr ist meine Hirte) darf nicht fehlen. Gerne auch süsslich gesungen. Dazu kommen der gute Hirte, das verlorene Schaf und andere biblische Stellen mit dem Hirtenbild. Auch der 1. Petrusbrief nimmt das Bild auf (5,1-4) . Es ist diesmal für die Predigt vorgeschlagen. Ich bin auswärts auf Kirchenbesuch. Es blökt durch die ganze Feier, ist von Herde, Mit-Schaf und Oberhirte die Rede. Die fromme Seele darf weiden. Auf dem Schaffell liegt man weich. Ich frage mich, was die Jurastudentin Julie und der Lastwagenfahrer Paul denken, wenn sie Schaf genannt werden. War das beste biblische Schaf nicht das Opferlamm. Na prima... Ich versuche mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal eine Schafherde gesehen habe. Es ist lange her. Der Hirte war eine junge Aussteigerin. Der Hund bewegte sich unermüdlich. Die Schafe bewegten sich ermüdlich.  Es dürfte schwer sein

flüchtiges Gold

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Wie Gold das erste Grün, Wie schnell muss es verblüh'n. Des frühen Blattes Kleid; Für ach so kurze Zeit. Schon bald sinkt Blatt auf Blatt. Und Eden selbst scheint matt, Der Morgen wird zum Tag. Gold nie bestehen mag. https://lyricstranslate.com Eigentlich ein Glück, wenn man das immer wieder erfahren darf, auch nach vielen Lebensjahren: Etwas geht mir auf, das mir bisher noch nicht aufgefallen ist. ,Stimmt!' sage ich. ,Dabei hab ich es doch schon oft gesehen.' Oft braucht es Worte, damit ich Dinge überhaupt erst wahrnehme. Zwar waren sie schon vorher wahr . Doch erst jetzt nehme ich sie wahr.  Poesie macht das mit mir. Vielleicht heisst sie drum auch so. Poein gr. heisst machen . Es sind Worte, die etwas mit mir machen. Auch  gesehen sind auch die Worte der Bibel Poesie. Sie lassen mich manchmal Unsichtbares sehen. (Das nennt man dann 'Glauben'.) Per Newsletter flattert ein Gedicht von Robert Frost ins Mail. Es erzählt vom ersten Frühlingsschimmer, der ganz g

Durchreiche

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,Das ist das Tollste am neuen Haus,’ sagt die kleine Irma und geht immer wieder zur Treppe. An einer Schnur hängt ein Korb. Sie legt ihre Puppe hinein und den Haargummi und das Brillenetui, das auf dem kleinen Kästchen im Gang liegt. Dann springt sie die Stufen nach oben, zieht den Korb hoch und nimmt Puppe, Haargummi und Brillenetui heraus. Der perfekte Warenlift. Die alte Frau, die hier gelebt hat, konnte sich mit dieser Einrichtung die Hände frei halten, wenn sie Treppen steigen musste. Nun ist sie im Pflegeheim. Die junge Familie wird das Haus übernehmen und zu ihrem eigenen Zuhause machen. Die kleine Irma findet das alte Haus völlig blöd. Doch hätte man sie gefragt, sie hätte es trotzdem genommen. Wegen des Korbs an der Schnur. Eine Durchreiche durch alle Böden. Grossartig. Alles lässt sich hochziehen. Vielleicht sogar sie selbst. * Ein schönes Osterfest in diesem Jahr. Es tut mir gut. Der Frühling hat alle Grüntöne im Angebot. Die Kirche singt kräftig ,Morning has broken.'  I

Zittern

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Vor einem Jahr wurde Butcha zum Fanal. Die Bilder toter Dorfbewohner zwischen zerschossenen Panzerfahrzeugen und verscharrter Zivilisten am Waldrand brannten sich der Weltöffentlichkeit ins Gedächntnis. Sie machten auch dem Letzten klar, was Krieg bedeutet: Ein Exzess von Hass, Gewalt und Zerstörung, dem nichts mehr heilig ist. Von den Berichten in den Medien zum Jahrestag ist mir das Bild der Frau geblieben, die sich im Keller an ihre Bibel klammert. Mit ihm gehe ich in die Karwoche. Sie erinnert mich an den gefolterten Jesus am Kreuz, der sich, gottverlassen, an das Letzte klammert, was ihm noch bleibt: Genau diesen so abwesenden Gott. Worauf könnte man sonst noch hoffen? Jewhen und Ljudmila Kusnezow haben das Grauen mit eigenen Augen gesehen. Das Haus des Ehepaares liegt an einer Kreuzung, wo die Russen Anfang März eine Strassensperre mit zwei Schützenpanzern errichtet hatten. Von da aus schossen sie auf alles, was sich bewegte. Die Soldaten feuerten auch auf das Haus der Kusne