Fleischwerdung

Rembrandt, Geschlachteter Ochse,
1655
,Und
das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.'  Johannes 1, 14

Pures Fleisch. Ein geschlachtetes Rind, ohne Kopf und Fell, Bewegung und Atem, all dem, was das Tier zu einem lebendigen und individuellen Wesen machte. Die Ganzheit eines Lebens gewaltsam und unwiderbringlich zerstört und auf eine Masse von Muskeln, Knochen, Gewebe und Zellen reduziert. Rembrandt hat diese nackte Wahrheit 1655 gemalt. Man muss sich zwingen, hinzuschauen. Was damals zum Alltag gehörte, findet heute hinter verschlosssenen Schlachthoftüren statt.  Dreihundert Jahre später malte Francis Bacon das Schlachttier nach, halbierte es und setzte eine grausige Menschenfigur dazwischen. Nicht einfach irgendeinen Menschen. Einen Papst, modelliert nach einem berühmten Bild von Velazquez. Aussage: Auch der höchste Geistliche ist irgendwo nichts als Fleisch.


Pures Fleisch. In dieser Vorweihnachtszeit fällt mir besonders auf, wie das Jesuskind auf vielen Darstellungen alter Meister völlig nackt ist. Während Maria, Josef, die Hirten, Engel oder Könige ausserhalb von Gesicht, Händen und Füssen auch nicht das kleinste Fleckchen nackte Haut zeigen, liegt der Gottessohn oft schon fast aufreizend freizügig auf einem weissen Tuch zwischen Ochs und Esel und zeigt alles, was ein kleiner Junge zeigen kann. Man kann nicht anders als hinsehen - und erkennen: Das ist ein Menschlein, ganz und gar. Fleisch und Blut. Dabei würde keine Mutter und kein Vater eine Kleinkind so unbedeckt lassen. Doch darum geht es nicht. 


Hans Schäufelein, Christi
Geburt, um 1506, Ausschnitt

Fleischwerdung – Inkarnation:  Auf diesen Begriff bringt die Bibel im Johannesevangelium das Weihnachtsgeheimnis.  Zum zweiten Mal erleben wir nun das Fest unter Pandemiebedingungen. Das Virus kümmert sich nicht darum, wer wir sind. Alles, was uns zu ganz eigenen und besonderen Menschen macht, ist ihm komplett egal. Auch, was wir über es selbst denken. Es interessiert sich für uns einzig und allein als Fleisch. Es reduziert uns auf eine Zellmasse. Das macht uns alle gleich. Und kränkt uns gleichzeitig zutiefst. Im Zeitalter des Hyperindividualismus ist nichts so wichtig, wie das, was uns besonders macht. Da kann sogar eine ganz seltene Krankheit zu einem Asset werden, das einem in der Informationsgesellschaft besondere Aufmerksamkeit verschafft. Doch das Sars-CoV-2 schlägt auch diesen Strohhalm aus der Hand. Da gibt es nichts für uns zu holen. Es holt sich alles. Und kümmert sich keinen Deut darum, dass wir doch auch geistige Wesen sind. Es will Fleisch. Es wird Fleisch. Inkarnation.

Es hat etwas Gewaltsames, wenn etwas in Fleisch und Blut eingeht. Auch wenn man nichts spürt, wie bei einer Infektion. Die Ganzheit und Heiligkeit des Körpers wird zerstört. Es geht buchstäblich unter die Haut. Und damit wird auch das Selbstbild, ja vielleicht Illusion zerstört, die wir von dieser Ganzheit hatten. Das mag einen Teil der tiefreichenden Verstörung erklären, die Covid-19 in der Gesellschaft, besonders der westlichen, auslöst. Und einen Teil des Widerstands, den einige gegen die Impfung aufbieten. Den wenigsten geht es wohl um den Piks allein. Doch das Eindringen von fremder Substanz in den eigenen Körper und die Einreihung dieses Körpers in eine unüberschaubare gleichförmige Masse zerstört lieb und heilig gewordene Selbst- und Körperbilder und weckt rasendes Unbehagen. 

Wir haben gelernt zu sagen: ,Mein Körper gehört mir' - und müssen ohnmächtig feststellen, dass das uns in diesem Fall nicht hilft. Mehr noch: Unser Körper kann zum Ansteckungsherd werden, der andere gefährdet. Ob wir es wollen oder nicht, er betrifft auch unsere Mitmenschen. Unser Körper gehört uns und ist doch kein geschlossenes System, über das wir nach Belieben verfügen. Es kommen Dingen hinein und gehen hinaus. Inkarnation. Infektion.

Vor diesem neuen Erfahrungshintergrund höre ich nun, wie die Bibel sagt, dass das himmlische Wort Fleisch wurde - Inkarnation. Und ich merke, wie diese Rede für mich nun plötzlich konkreter und drastischer spricht als die Weihnachtsbotschaft als Geschichte mit Maria, Stall, Hirten und Königen. Rembrandt malt. Das Kind blüttelt rosafarben und unendlich verletzlich rum. Und das Virus reduziert uns zu Fleisch. Fleischwerdung ist krass.

Ob das auch im Heilvollen gilt? 

Die unheilvolle Inkarnation haben wir in den vergangenen Monaten am eigenen Leib und millionenfach erlebt. Wir sind nicht immun. Unser Leben ist ein offenes System. Dinge gehen unter die Haut. Mensch sein heisst durchlässig sein. Wir können nicht ,nichts' reinlassen. Aber wir können neben dem Krankmachenden auch das Gesundmachende reinlassen: das Antidot.

Inkarnation: Wenn das Wort Fleisch wird, dann geht Himmlisches unter die Haut. Gott impft uns mit seiner Güte und Freundlichkeit. Es reicht nicht, dass wir es hören und denken. Es muss in den Körper, in Fleisch und Blut übergehen, und muss daraus dann konkret und aktiv werden, ansteckend. Während uns allen die unheilvolle Fleischwerdung nach den vergangenen Monaten tief in den Knochen steckt, erzählt das bevorstehende Weihnachtsfest von der heilvollsten Inkarnation, die sich denken lässt: Gott wird Mensch. Unser Fleisch wird zum Wirt des himmlischen Geistes. Unser Leben zum Träger himmlischer Gaben. Und diese wollen nichts sehnlicher, als auf andere überspringen und ihnen zugute kommen.

Von Infektionskrankheiten wusste man zu biblischen Zeiten noch nichts. Jesus war auch nicht dagegen gefeit. Er war ganz Mensch. Fleisch und Blut. Rembrandts Schlachtstück erinnert nicht zufällig an den Gekreuzigten. Doch eines wusste unser Weihnachtsbruder wohl besser als alle anderen: Dass auch Heilvolles anstecken kann. Und das ist vielleicht das tiefste Geheimnis der Inkarnation: Gerade von dem Moment, an dem das einst rosige Krippenkind äusserst gewaltsam wieder ganz auf pures Fleisch reduziert wurde, als Schaustück am Kreuz, geht seither die grösste Kraft aus. Inkarnation des Wortes. Infektion der Hoffnung.

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

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