Zwischen den Jahren

Was mir auf der Brücke zwischen den Jahren so durch den Kopf geht:

- Das meckernde Lachen von Desmond Tutu und wie er sich bei einer Anhörung der Wahrheitskommission die Hände vor Entsetzen vors Gesicht schlägt und seine Stirn auf die Tischplatte legt. Er hat dieses Weihnachtsfest noch mitgenommen und ist danach mit 90 gestorben. Ich frage mich oft, wie man angesichts von so viel Hass und Gewalt das Lachen bewahren kann. (Seine Friedensnobelpreismedaille wurde ihm bei einem Einbruch gstohlen. Das goldene Lachen blieb.) Tutu hatte ein Geheimrezept. Bestimmt hatte es mit seiner Liebe zu den Menschen und mit seinem Glauben an Gottes Liebe zu den Menschen zu tun.

- Die Kinderaugen an Heiligabend: Wie alt auch die Menschen, in dieser Heiligsten der Nächte schaut aus allen Menschen das Kind, das sie mal waren und das sie irgendwo noch sind und das sie irgendwie werden.

- Das Gedicht von Jochen Klepper, auf das ich bei der Vorbereitung der Weihnachtspredigt stiess. Er schrieb es 1938. Und in der letzten Strophe nickt er Tutu zu.

1. Sieh nicht an, was du selber bist / in deiner Schuld und Schwäche.
Sieh den an, der gekommen ist, / damit er für dich spreche.
Sieh an, was dir heut widerfährt, / heut, da dein Heiland eingekehrt,
dich wieder heimzubringen / auf adlerstarken Schwingen.

3. Glaubst du auch nicht, bleibt er doch treu, / Er hält, was er verkündet.
Er wird Geschöpf – und schafft dich neu, / den er in Unheil findet.
Weil er sich nicht verleugnen kann, / sieh ihn, nicht deine Schuld mehr an.
Er hat sich selbst gebunden. / Er sucht: du wirst gefunden!

5. Wie schlecht auch deine Windeln sind, / sei dennoch unverdrossen.
Der Gottessohn, das Menschenkind / liegt doch darin umschlossen.
Hier harrt er, daß er dich befreit. / Welch‘ Schuld ihm auch entgegenschreit –
er hat sie aufgehoben. / Nicht klagen sollst du: loben!

- Die Schoggikugeln meiner Mutter. Sie enthalten sämtliche Weihnachten, die ich schon erlebt habe. 

- Das Abendmahl an Weihnacht mit dem Lied 'Ich steh an deiner Krippe hier'. Statt Schoggikugeln Brot und Traubensaft. Statt Familie Gemeinde.

- ,Der Augenblick ist jenes Zweideutige, darin Zeit und Ewigkeit sich berühren.' Sören Kierkegaard

- Die unglaubliche Kraft der Zerbrechlichkeit in Joan Didion. Sie gehörte zu den frischesten Stimmen des New Journalism, reiste in Kriegsgebiete und sprach mit den schrillsten Apokalyptikern Kaliforniens - und war dabei von so feiner Gestalt, dass sie rundum Beschützerinstinkte weckte. Ihre Sensitivität war ihre Stärke, eine Weltmacht des Wortes. Als am 30.12.2003 ihr Mann, gerade vom Besuch bei der schwerkranken Tochter zurück, starb, schrieb sie eines der berührendsten und ehrlichsten Trauerbücher ,The Year of Magical Thinking' / ,Das Jahr magischen Denkens'. Anders als Tutu wollte Joan Didion das Weihnachtsfest nicht mehr erleben. Sie starb am 23., 87-jährig. Mit der Nähe zum Fest erhält die Kraft ihrer Zerbrechlichkeit was Weihnächtliches: auch das Kind war damit gesegnet.

- Ich glaube ja nicht,
dass der Garten im Winter
seine Ekstase verliert.
Er ist still.
Aber die Wurzeln sind aufrührerisch
ganz tief da unten.
Rumi

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

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