Wurmperspektive

Im Vorübergehen
erinnern sie mich
an die gotischen Zahlen
an Kanzeln und Türen alter Kirchen,
altrosa getüncht.
Diejenigen,
die nicht von Autos
plattgefahren wurden,
verdorrten unterwegs.
Todeswüste Asphaltstreifen. 

Was erwarten Regenwürmer
von der anderen Seite
der Strasse?
Was zwingt sie
mitten am Tag
auf den glühenden Asphalt
hinaus?
Wählen sie ihren Weg
oder wählt der Weg sie?

Ich bin schon
mit einem grossen Schritt
darüber hinweg,
als mir bewusst wird,
dass sie sich da eine gotische Vier
bewegt hat.

Ich gehe weiter.
Liegt es nicht
in der Natur der Natur,
dafür zu sorgen,
dass alles seinen Lauf nimmt?
denke ich.
Manche schaffen es.
Andere nicht.

Empfindet ein Regenwurm
eigentlich Schmerzen,
wenn er sich windet?
Graut es ihm,
wenn er auf dem Asphaltgrau
stecken bleibt?

Ein paar Schritte weiter
kehre ich um.
Gehe über ein paar Leichen
zum sich noch windenden
Regenwurm zurück.
Nehme ihn
von der Strasse
und lege ihn
auf der anderen Seite
ins Gras.

Ich glaube nicht,
dass Regenwürmer
was von Menschen wissen.
Was ausserhalb ihrer selbst liegt
- gegenüberliegender Strassenrand,
Drossel, Gewitterwolke -
entzieht sich ihnen vollständig.
Der Regenwurm ahnt nichts
von seiner wunderbaren Rettung.
Er glaubt weiterhin
nicht an den Menschen.

An der Sache ändert
das nichts.
Da ist ein Mensch umgekehrt
und hat sich eines Regenwurms
erbarmt.

Wer hätte das gedacht?

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

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