Untergrundkarte

Wie kann man eine Ahnung für das kriegen, was man nicht sieht? Wie dem anderen, nicht Eigenen, mit Respekt begegnen?

Der Designer Nobuyuki Siraisi gehörte zum Team der Firma Michael Hertz, das Ende der 70-er Jahre den Auftrag bekam, einen neuen Subway Plan von New York zu entwerfen. Im wachsende Grossstadtchaos war der alte Plan immer unleserlicher geworden. Die Klagen über Disorientierung häuften sich. Neue Linien sprengten die alte Ordnung. In einer Studie nahm der Plan des U-Bahn-Netzes ganze 21 Seiten ein. Ziel war, alles verständlich und übersichtlich auf eine Seite zu bringen. Wie geht man sowas an? 

Es wird erzählt, dass Nobuyuki Siraisi sich zur Vorbereitung auf seine Aufgabe mit geschlossenen Augen und mit Notizblock und Stift in die Subyway setzte und sämtliche U-Bahn-Linien von New York abfuhr. Er wird damit ein paar Tage beschäftigt gewesen sein. Blind zeichnete er auf seinem Schreibblock alle Strecken und Kurven nach, auf Beschleunigung, Steigungen und Fliehkräfte achtend, auf das Quietschen der Bremsen, das Dröhnen in der Röhre und die relative Ruhe im Freien, das Geräusch der Türen und die von den Stationen hereindringenden Durchsagen. Für jede Linie nahm er eine andere Farbe. Seine Skizzen wurden zur Grundlage des neuen Planes, auf dem auch die heutige Subway Map noch basiert.

Der Plan bildet nicht einfach ab, was da ist. Die Proportionen stimmen bei ganz und gar nicht. Er kehrt nicht den Untergrund hervor, damit täglich Millionen von Menschen zur Arbeit, zu Freunden, zum Flughafen oder ins Baseballspiel finden. In einem Schnitt durch den Untergrund der Stadt wäre die Subway kaum zu erkennen. Der Plan zeigt vor alles auf, wie die ganze Stadt miteinander vernetzt ist und alles mit allem zusammenhängt. Erst durch diese Synthese werden die fünf Stadtteile (Burroughs), jeder eine Millionenstadt für sich, zu einem grossen, bunt miteinander verbunden Grossraum New York. Als ich davor stand, verstand ich sofort. Und unzähligen anderen aus der ganzen Welt geht es ebenso.

Der Gang der Welt sagt mir, dass wir Menschen es verlernt haben, uns zurückzunehmen, auf die Welt um uns, so wie sie ist, zu achten, das Fremde zu respektieren und daraus zu lernen. Wir werden zu Opfern unseres eigenen gewaltsamen und gierige Zugriffs. Das bereitet mir oft Sorgen. Der Mensch Nobuyiki Siraisi zeigt mir, dass es auch anders, ja manchmal nur anders geht. Blind sieht man mehr. Selbst wie unsichtbar werdend, zeigt sich das andere in seiner eigenen Würde und Pracht.

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

 

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