Tiger und Rosen

Ein Mensch wird von einem Tiger verfolgt und stürzt sich über die Klippe. Er kann sich gerade noch an einem Strauch festhalten, der sich jedoch langsam aus der Erde löst. Da sieht er gleich vor sich leuchtend rote Himbeeren. Was tun?

Das Buch* erzählt diese Geschichte gleich mehrmals. Die Autorin verzweifelt über die Welt und möchte sich selber trösten. Sie erzählt vom Rosenzüchten und vom Bäumepflanzen. Und von den Himbeeren der buddhistischen Legende, die auch in über dem Abgrund hängend gepflückt werden wollen - und süsser schmecken denn je. Die Traurigkeit der Autorin bleibt dennoch spürbar. Die Rosen, Bäume und Himbeeren leuchten als bunte Sterne in der Nacht. Die Nacht bleibt trotzdem dunkel. Es ist eben so eine Sache mit dem sich selber Trösten. Auch wenn die Kraft der Rosen, Bäume und Himbeeren nicht verachtet werden soll. Erst recht nicht als Geschöpfe mit eigenem Sinn und göttlichem Esprit.

Ein Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag wurde während der Prozesse zum Jugoslawienkrieg mitte der 90-er Jahre gefragt, wie er die täglichen Berichte über Gräueltaten überhaupt aushalten könne. Der Richter begann zu strahlen, als er sagte: ,So oft ich kann, schleiche ich zum Mauritshuismuseum rüber und verbringe etwas Zeit mit den Vermeers.'

Ich bin im Norden Italiens unterwegs. Es gab Zeiten, da kriegte das einmalige Ritual der Taufe ein eigenes heiliges Haus. Das doppelte Taufbecken steht in der Mitte. Das äussere Becken ist makellos, aus einem einzigen Stein gehauen, und achteckig. Für diesen Moment gehört man dem 8. Tag an - dem Auferstehungstag. In dieses Becken stieg der Mensch, der taufte. Mitten im Achteck das innere Becken: ein gleichschenkliges Kreuz (-auch eine Rose...), ebenfalls aus einem Stein gehauen. In dieses mit Wasser gefüllte Becken stieg der Mensch, der getauft wurde.

Ich stell es mir vor. Ich kann mir gut denken, wie dieser Mensch, mitten in diesem eigenen Raum, eingetaucht in das Kreuz im Achteck und unter den Menschen, die zu ihm gehörten, in diesem Moment der Welt ganz entschwand und ihr starb. Und ich kann auch gut glauben, wie dieser Mensch dann wieder auftauchte, äusserlich am genau gleichen, und doch innerlich an einem ganz und gar anderen Ort, triefend nass bis auf die Haut und prustend vor Berührtsein  - und die Welt neu sah und ihr neu geboren wurde. Das Taufbecken als Nabel der Welt. Als das weltenverbindende und -sprengende Wurmloch, das mich aus der Zeit schluckt und in sie hinein spuckt. Eine alternative realitiy im besten (, nicht trump'schen' Sinn.

Rosen, Bäume, Himbeeren und Vermeers machen in der Tat viel Freude.
So viele leuchtende Hagenbutten wie in diesen Tagen habe ich übrigens noch nie gesehen.
Trost indessen kennt unsere Sprache seltsamerweise nur in Einzahl...

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

* Rebecca Solnit, Orwells Roses


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