wider Erwarten gütig
Die Erwartung des Guten.
Der Kontrast des Unguten.
Das Paradox, dass eine Hoffnung, die auf Ewigkeit angelegt ist, alle Jahre wieder kommt.
Die Versuchung, sich die Erwartung zu ersparen, um sich die Enttäuschung zu ersparen.
Sich am Glück festhalten, das bleibt.
Zum Beispiel lesen.
Der 11-jährige Roland wird Zeuge eines Verkehrsunfalls. Ein Motorradfahrer wird von einem Auto angefahren und schleudert durch die Luft. Die Frau im Auto ist im Schock. Menschen eilen herbei, um zu helfen. Ein Polizeiwagen, eine Ambulanz.
Mit seinen elf Jahren hatte er nichts Vergleichbares erlebt, beängstigende Minuten, die unzusammenhängend wirkten, fast wie ein Traum. Ereignisse, die in der Erinnerung verschwammen, ihre Abfolge verloren. (...) Der Mann, der durch die Luft schoss - das stand ausser Frage. Auch wie er aufgeprallt und kopfvoran weitergerutscht war, und wie der weisse Helm auf den grasbewachsenenen Seitenstreifen kullerte. Doch was Roland nie vergessen sollte und was ihn veränderte, geschah erst, als die Hecktüren zuschlugen und die Krankenwagen sich in den erstarrten Verkehr einfädelten. Er begann zu weinen. Er trat beiseite, damit sein Vater es nicht mitbekam. Der Mann und die Frau taten Roland leid, aber das war nicht der Grund. Er weinte Freudentränen, denn mit einem plötzlichen, warmen Gefühl begriff er, was er noch nicht in Worte hätte fassen können: Wie liebevoll und gut die Menschen waren, wie gütig die Welt, in der es Krankenwagen gab, die rasch aus dem Nichts auftauchten, sobald es Kummer und Schmerz gab. Es war immer da, ein ganzes System, gleich unter der Oberfläche des Alltagslebens, wachsam wartete es, bereit, mit Wissen und Kompetenz zu Hilfe zu eilen, eingebettet in ein grösseres Netzwerk der Nächstenliebe, das Roland noch zu entdecken hatte. Als die Krankenwagen davonfuhren und ihre Sirenen in der Ferne verklangen, kam es ihm vor, als ob alles funktionierte und anständig, fürsorglich und gerecht war.
Ian McEwan, Lektionen, Zürich 2022, 64f
Philipp Roth
philipp.roth@kgbb.chphilipp.roth@erk-bs.ch
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