Machtspiele, heillos

Gestern spät. Ich hatte einen schönen Sonntag. Einen wirklichen Ruhetag. Und plötzlich, am Ende dieses Tags des Herrn, beim Checken der Nachrichten, sitzt da dieser Herr aus Brasilien vor mir, schaut aus dem Fenster auf den Tumult auf dem Platz, und dreht mir den Rücken zu auf dem steht: Gott über alles (Deus acima de tudo). Und ich frage mich: Was zum Teufel hat Gott hier verloren?

In einer gespenstischen Wiederaufführung des 6. Januar 2021 in Washington hat eine mit Fahnen, T-Shirts und Baseballmützen bewaffnete Menschenhorde in der brasililanischen Hauptstadt das Parlamentsgebäude, den Sitz des Präsidenten und das Bundegericht gestürmt. Unter ihnen viele rechtsnationale Anhänger der neuen evangelikalen Pfingstkirchen. Sie protestieren gegen das Ergebnis der Präsdentenwahl. Und zeigen, indem sie die drei Säulen der Demokratie angreifen, dass sie davon wenigstens soviel verstanden haben: In einer Demokratie sitzt der die Macht nicht an einem Ort, die Gewalt wird geteilt.

,Du sollst den Namen des Herrn nicht missbrauchen,' sagt das 3. der 10 Gebote. Lange dachte ich, damit sei das Fluchen gemeint. Und fand das etwas banal. Soll doch der Automechaniker mal ausrufen, wenn es nicht läuft, oder die Frau ihren Frust rauslassen, wenn der Hund nicht gehorcht. Gott fällt damit schon kein Zacken aus der Krone. So humorlos wird er ja wohl nicht sein. Irgendwie muss man mal Druck ablassen. Besser so als mit den Fäusten. Oder indem man alles in sich reinfrisst. 

Wenn Autöritäten (Eltern, Lehrpersonen, Kleriker, Behörden, Staat) das Gebot ihren Schützlingen lehren, dann kommt zwangsläufig eine moralisierende und Affekt zähmende Anstandsregel heraus. Mehr Anstand - weniger Aufstand. Ganz anders jedoch, wenn das Gebot von unten nach oben zielt und sich an die Autoritäten richtet. ,Du sollst den Namen des Herrn nicht missbrauchen,' heisst dann: Lass Gott bei deinen Machtspielen auf der Seite. Benütze ihn nicht, um deine Macht zu zementieren. Und erst recht nicht, um deine Allmachtsphantasien zu legitimieren. An einem menschlichen Amt ist nichts Göttliches. Und sei es ein Präsidentenamt oder eine Monarchie. Im allerbesten Fall ist es möglichst ,gerecht', das heisst: von möglichst vielen legitimiert und vor allen in Verantwortung. 

Es war ein langer Weg, menschliche und göttliche Macht auseinander zu dividieren. Seit Konstantin hatten sich die westlichen Regenten das Kreuz auf die Fahnen geschrieben. Die Kreuzritter zogen mit 'Gott will es' in die Menschenschlachterei. Der absolute König war nicht nur der Staat (l'état, c'est moi), sondern gleich auch menschliche Allmacht aus göttlicher Gnade. Die Gewaltenteilung bedeutete deshalb nicht nur eine Entzauberung und Einhegung menschlicher Macht, sondern auch eine Ablehnung jedes Allmachtsgedankens auf Erden. Kein Wunder, haben sich neben der Aristokratie auch die Kirchen lange dagegen gewehrt (die katholische Kirche tut es immer noch...). 

Dabei haben Aufklärung, Humanismus und Demokratisierung einen Teil des Evangeliums besser verstanden, als es die Kirche je tat: Was es bedeutet, dass Gott Mensch wurde. Als Projektionsfläche für Allmacht eignet sich das Kind in der Krippe nicht. Und wer gewisse Menschen und Ämter weiterhin vergöttlicht und ihnen eine über alle menschlichen Geschäfte erhabene Würde zubilligt, in welcher Art auch immer, zielt an dieser Kernbotschaft des Evangeliums komplett vorbei. Spätestens in Bethlehem hat Gott endgültg die Lust an Machtspielen verloren. Nur noch Gerechtigkeits-, Friedens- und Liebesspiele interessieren ihn.

Es ist ein Desaster, wie in den USA und nun auch in Brasilien evangelikale Christen zu Bannerträgern anti-demokratischer und autoritärer Bewegungen geworden sind. Sie leisten damit nicht nur menschen- und lebensfeindlichen Kräften Vorschub, sondern propagieren das Bild eines Gottes, an den man hoffentlich nicht nur nicht glauben kann, sondern auch nicht will. Fromm kann unglaublich gottlos sein und feurig religiös von teuflisch nicht mehr zu unterscheiden.

Natürlich kenne ich den Herrn mit Gott auf dem T-Shirt nicht. Wie ist er nur hierher geraten? Natürlich muss er die gewählte Regierung nicht toll finden und darf deren Politik verabscheuen. Er darf sie laut verfluchen und dagegen mit allen demokratischen Regeln protestieren. Doch soll er dabei auf Gewalt verzichten. Und akzeptieren, dass diese geteilt ist. Gott sei Dank. (Er darf auch bei seinem Verfahren darauf zählen...)

Gestern, an diesem schönen Sonntag, habe ich wieder Mal Elias Canetti aus dem Bücherregal genommen und durch seine Aufzeichnungen 1942- 1972 geblättert. Der alte Bärbeiss ist immer für eine klare Gerade zu haben. Dabei blieb ich ua an diesem Satz hängen: Die Menschen können nur einander erlösen. Darum verkleidet sich Gott als Mensch. (Zürich 1975, S. 48)

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch



Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

sich selbst zum Narren machen

das echte Schneewittchen

Abschaffung des Glaubens