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Die Geschichte geht mir nach. Eine Gemeinschaft schafft sich ein Versammlungshaus. Und das Versammlungshaus schafft die Gemeinschaft. Wer bin ich unter den anderen? Was teile ich? Was trennt mich? (gr. synagoge bedeutet einfach Versammlungsort)
Man versammelt sich. Es ist Sabbat. Im Hintergrund eine Frau, seit Jahren gekrümmt. Vielleicht wär sie heute im Rollstuhl. Vom eigenen Gewicht entlastet, könnte sie geraden Hauptes dabei sein und frei sehen. Wer aber ist sie in dieser Gemeinschaft? Wie wird sie gsehen - und wie hat sie sich in der langen Zeit in diesem Umfald selbst sehen gelernt? Als die Gekrümmte? Die Schiefe? Das Kollektiv schärft die Differenz und neigt dazu, die Differenz zur Etikette zu machen (die Rothaarige, der Schweigsame, die Katzenfrau, der Schwule) - oft so lange (18 Jahre), bis die Differenz zum Wesenmerkmal der Person geworden ist, obwohl es nur was Äusserliches oder Nebensächliches ist.
Jesus holt sie in die Mitti und sagt, er möchte ihre Fesseln lösen. Er berührt sie und richtet sie auf.
Nun kann man an die Geschichte die Fragen stellen, die man bei allen Wundererzählungen aufbringen kann: Woran litt die Frau? Wie lässt sich das erklären? Ist das tatsächlich so geschehen?
Mir geht jedoch heute vor allem der Ortswechsel und der Blickwechsel nach. Aus der Ecke der Gemeinschaft holt Jesus die Frau in die Mitte, in der traditionellen Synagoge für die Männer reserviert. Und mit der Heilung demnostriert er den Anwesenden, wie er die Frau sieht und nie anders gesehen hat: als geraden, aufrechten Menschen im Herzen der Gemeinschaft und in Augen des Himmels. Vielleicht zeigen Wundergeschichten weniger, was Gott alles kann, als, wie die Welt aussähe, wenn sie ganz sein Reich wäre (Dein Reich komme...).
,Die Heilung der gekrümmten Frau' (Lukas 13, 10-17) ist so mehr eine Geschichte des Sehens als eine Geschichte des Heilens. Und was geheilt werden muss, ist weniger die betroffene Person, als der urteilende Blick der anderen, der Menschen auf ihre Differenz oder gar wirkliche oder vermeintliche Defizite festlegt. Diese Spur nimmt jedenfalls auch der zweite Teil der Geschichte (V. 14-17), der dem status quo hütenden Versammlungshauswart (Synagogenvorsteher) scharf an der Karren fährt. Wieso sollte man ausgerechnet am Sabbat nicht sowas Gutes tun - den eigenen Blick hinterfragen und einander neu und 'heil' sehen lernen?
Wann sehen wir einen Menschen wirklich ganz?
Die Frau erinnert mich an die Skulpturen von Alberto Giacometti. Menschen, so verwesentlicht und aufrecht, dass sie zwischen Himmel und Erde ganz dünn werden. Ich stelle mich jeweils gerne davor und werde dabei ganz still und ganz gerade.
Ein befreundeter Maler erinnert sich an eine Szene mit Alberto und Annette, seinem Modell und späteren Frau, im Café:
„Als er ins Café kam, guckte er Annette eindringlich an, manchmal konnte er einen sehr anstarren, was zuweilen sehr unangenehm war. Und Annette sagte, was schauen Sie mich so an? Und Alberto sagte, ich habe Sie heute noch nicht gesehen. Und sie sagte, ich habe gerade fünf Stunden für Sie Modell gesessen, und Sie haben mich noch nicht gesehen? Er sagte: Nein.“
Philipp Roth
philipp.roth@kgbb.ch
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