Schweigen, mehr sagend

Gestern wieder. Der Genuss eines guten Gesprächs. Bigtalk.
Dazwischen und darüber hinaus jedoch oft die Ödnis ermüdender Geschwätzigkeit - auch auf und über nie schlafende Bildschirme.
Man denkt, man zeigt Betroffenheit durch dauerndes darüber Reden. Was, wenn genau das eine Form der Verdrängung wäre?

Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob es tatsächlich die Sorgen der Corona-Ukraine-Dauerkrise sind, die mich so erschöpfen. Oder die pausenlosen, jede Sonne verdeckenden und dauerend allen Seelenstaub aufwirbelnden Kommunikationsgewitter.

Eine grosse, bewegende Trauerfeier. Es war ein volles und langes Leben. Und tiefgläubig. Es gibt viel zu erzählen. Und man darf alles hoffen. Nur für den Schmerz ist kein Platz vorgesehen. Er spürt, dass er hier unerwünscht ist, und trollt sich davon wie ein Hund. Man meint, er sei weg. Dabei wartet er gleich vor der Tür.

Ein Vertreter der Zunft wirft gerade der besonders die Hoffnung betonenden Theologie eine 'gnadentheologische Verdrängung des Todesphänomens' vor. (Ulrich Barth).

Als Hiob Wohlstand, Familie und Gesundheit verloren hat und ihm nur noch das nackte Leben bleibt, kommen seine Freunde Elihu, Bildad und Zofar zu Besuch. Als sie ihn sehen, erkennen sie ihn kaum wieder. Sie zereissen bestürzt ihre Kleider. Und schweigen. ,Sie setzten sich zu ihm auf die Erde. Sieben Tage und sieben Nächte sassen sie da und sprachen kein einziges Wort. Denn sie sahen, wie heftig sein Schmerz war.' (Hiob 2, 13). Es ist kein stummes Schweigen, sondern ein mehr sagendes als alles Reden. Mitgefühl bis an den Herzrand.

Von da leitet sich das bis heute praktizierte jüdische Trauerritual her:  

,Zum Abschluss einer jüdischen Beerdigung muss der trauerende Hinterbliebene im Stehen sein Gewand zerreissen. Zu Hause muss der auf einen niedrigen Hocker oder Stuhl sitzen, er soll während den ersten drei Tagen nicht reden, und an den den darauffolgenden vier Tagen soll er nur antworten, wenn er angesprochen wird. Die Trauerenden zu trösten ist eine grosse Miztvah (Gebot) und deshalb besuchen Freunde und Verwandte diejenigen, die Shiva, die sieben Tage des Trauerns, sitzen. Die Besucher sollen in Stille sitzen. Sie sprechen erst, nachdem der Trauerende begonnen hat, mit ihnen zu reden.' (Chaim Z. Rozwaski, Rabbiner in Berlin)

Begegnung so gestalten, dass das Schweigen Raum hat.
Neues Atmen (ruach/Geist) strömt in das vom Atem Beraubte.

Kirche so gestalten, dass das, was nicht aufgeht, Raum hat.
Nicht als Aufgehendes (Antworten),
sondern als Stossseufzer - manchmal auch: Stossjauchzer - vor dem Unfassbaren, den wir Gott nennen.

Schweigen - nicht betreten, sondern mehr sagend.
Schön
schwer.

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

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