Transit

Menschen als Inkarnation des Zeitgeistes.
Beispiel Mobilität.

I. Selbst nannte er sich ,Sir Alfred'. Vielleicht hatte er das von Hitchcock. Er war weltbekannt. Doch kaum jemand in der Welt kannte ihn wirklich. 1988 hatte der Iraner Mehran Karimi Nasseri im Transitbereich des Flughafens Charles de Gaulle seine Papiere verloren. Seinen Flüchtlingsstatus konnte er nicht mehr nachweisen. Er durfte weder weiterreisen noch den Flughafen verlassen. Der Terminal 1 wurde sein Zuhause und seine ganze Welt. Zwar bekam er 1999 ein Visum, blieb aber in seiner Nische unter der Rolltreppe. Erst ein Krankenhausaufenthalt trieb ihn 2006 aus dem Flughafen. Danach lebte er in einem Heim. (Steven Spielbergs Film ,The Terminal' (2004) wurde von Nasseri inspiriert.)

Im September 2022 kehrte er wieder in sein altes Zuhause zurück. Er habe mit seinen Habseligkeiten immer an derselben Stelle in einem Trolley gesessen, zuletzt kaum noch gesprochen und ins Leere gestarrt. Anfang November starb er 76-jährig.

II. 1969 starb in Italien ein Mann im Alter von 93 Jahren. Er hatte 20 Jahre auf Eisenbahnen gelebt. Er stieg unaufhörlich von einem Zug zum anderen um und hatte kein anderes Zuhause. Das Eisenbahnnetz war sein Zuhause und seine ganze Welt. Als einstiger Abgeordneter besass er ein Generalabo auf Lebenszeit. Sein Vermögen war aufgebraucht. Das Abo war geblblieben. Er starb im Hauptbahnhof von Turin. Beim Umsteigen. (Quelle: Elias Canetti, Aufzeichnungen 1942 - 1972,  Zürich 1975, S. 320)

Starke Schicksale, Bilder für das Leben (an sich/heute).
Ist es eine Passage?
Oder ein Transitaufenthalt?

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

 

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