wenn die Erde bebt, bebt noch viel mehr

Man sieht nur die Trümmerhaufen und die Menschentrauben. Die Kälte sieht man nicht. Auch nicht den Hunger, die Verzweiflung, die Ohnmacht, das Weinen, Wimmern, Wahnsinnigwerden. Und die vielen Toten.
Ausgerechnet die Gebiete, die in den letzten Jahren bereits durch das menschengemachte Böse terrorisiert wurden - Verfolgung, Bürgerkrieg, Korruption, Zusammenbruch der Lebensversorgung -, werden nun auch noch vom nicht menschengemachten Bösen heimgesucht.
Das Erdbeben in Syrien und der Türkei erschüttert nicht nur die Gebäude der Städte und Dörfer, sondern auch die Denk- und Glaubensgebäude bis ins eigene Herz. Erdbeben sind Existenzbeben. Unmöglich, darin eine Logik zu erkennen. Erst recht eine Theo-logik.
Ist also alles - Welt, Geschichte, Leben - einfach absurd?

An Allerheiligen 1755, am 1. November, zerstörten ein Erdbeben der Stärke 8,5 - 9 und ein Tsunami Lissabon fast vollständig. 30'000 bis 100'000 Menschen starben. Rund 85% der Gebäude, auch Paläste und praktisch alle Kirchen, wurden zerstört. Gegen den Willen der katholischen Kirche liess der Premierminister die Toten auf Schiffen ins Meer hinaus fahren und in der See bestatten. 

Im Süden Englands schlug eine 3 Meter hohe Flutwelle ein. In Schweden und der Niederlanden wurden Schiffe von den Ketten gerissen. In den Schweizer Seen standen die Wasserspiegel kurzzeitig schief (Seiches). Eine bisher unerkannte Solidaritätswelle lief durch Europa.

Und die Philosophen und Theologen des Westens zerbrachen sich über dem Erdbeben den Kopf:
Wie kann ein allmächtiger und gütiger Gott ein so gewaltiges Unglück zulassen? Warum traf es erst noch die Hauptstadt eines doch so schön streng katholischen Landes, das mit seinem Kolonialismus (!) doch unermüdlich für die Verbreitung des Christentums in der Welt wirkte? Warum zudem ausgerechnet an Allerheiligen? Und warum blieb das berüchtigte sündige Rotlichtviertel verschont, während bei den Kirchen kaum ein Stein auf dem anderen blieb?

Das Erdbeben war eine Geburtsstunde des Atheismus. Die Erschütterungen der Erdkruste rissen auch die so glatten und stets wieder frisch verfugten Denkgebäude der Systematiker der Welt auf. Und das war gut und nötig so.

Bei einer jungen Kollegin lernte ich vor ein paar Tagen eine hilfreiche Bezeichnung: ,Vertragsgott'. 

Der Vertragsgott ist das Bild eines Gottes, mit dem man einen Vertrag wie mit dem Waschmaschinenmonteur eingeht: Ich gebe dir dieses, dafür garantierst du mir jenes. Mancher Glaube basiert auf diesem Modell oder tendiert immer wieder dazu. Ich verspreche mir, dass sich mein ,Dienst' an Gott auszahlt - in Form von Glück, Erfolg, Bewahrung, Sicherheit. Für mich Menschen ist das ein naheliegendes Beziehungsmodell mit grosser Überzeugungskraft. Sind nicht sogar Liebesverhältnisse im Kern solche ,Vertragsverhältnisse'? (Man spricht dann von ,Beziehungsökonomie'?) Man weiss, was man hat. Es bringt's.

Das hat viel für sich. Und doch auch manches gegen sich. Vor allem dies: Eine solche Beziehung kann durch ein einziges Ereignis zertrümmert werden: Ein Erdbeben widerlegt den Vertragsgottglauben. Ein Vertrauensmissbrauch die Vertragsliebesbeziehung. 

Ich meine, dass sich meine Grundbeziehungen sich nicht auf den Tauschhandel eines (impliziten) Vertrags reduzieren lassen. Freundschaften, Eltern-Kinder-Liebe, Partnerschaft, ja selbst Arbeits- und Alltagsbeziehungen enthalten viele Elemente, die asymmetrisch, nicht kalkulier- und verrechenbar sind: Grosszügigkeit. Nachsicht, Humor, Geduld, Sympathie, Schwärmerei... Sie machen nachgerade den Geist dieser Beziehungen aus. Und ich glaube, auch meine Gottesbeziehung gehört zu dieser Kategorie. Sie ist nur so - asymmetrisch, nicht verrechen- und kalkulierbar - als lebendige Beziehung denkbar. Und kommt mir so im Evangelium entgegen.

Das Fachwort für einen Vertragsgottglauben heisst Theismus. Man weiss genau, wie ein solcher Gott funktioniert, was er bestraft und belohnt, was man erwarten kann und befürchten muss. Ein solcher Glaube ist kühle Ratio und muss zwangsläufig eher früher als später an den Unwägbarkeiten der Wirklichkeit zerschellen. (Oder er muss die Augen vor der Wirklichkeit verschliessen und zu einer toten Ideologie erstarren. Solche ,Glauben' sind dann die Zombies der Religiosität. Man trifft sie oft...)
Schon das Buch Hiob erzählt, wie der Glaube durch solche Grundbeben hindurch muss. Oder die Geschichte des Leidens von Jesus.

Ein solcher widerlegter, zertrümmerter Theismus ist ein A-Theismus. Das Vertragsgottesbild zerbricht. Dieser Gott ist tot. Für viele bleibt es dabei. So gesehen glaube ich auch ich a-theistisch an Gott.
Nur, dass für mich gerade in den Schalen dieses alten Gottesbildes ein neues quicklebendiges geboren wird. Das Bild eines Gottes, dessen zentrale Beziehungspunkte masslos irrational sind: Liebe, Frieden, Geduld, Wahrheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Es ist kein allmächtig abgehobener Welt- und Geschichtstechnokrat. Sondern ein mitleidender, inspirierender Hoffnungsträger und Lebensschaffer der unfassbaren Art.

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch


 

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