ein rauschender Zweig

Der Tag war lang. Die Kleine ist im Hauseingang am Fuss der Treppe gestrandet und am Ende. 'Ich mag nicht mehr laufen', quengelt sie, während die Tränen sich beeilen, in Rekordzeit die Strecke vom Augen- zum Schnullerrand zu bewältigen. ,Kein Problem,' sag ich. ,Ich bring dir das Bett runter.' ,Nein, sicher nicht!' mümmelt sie durch den Schnuller und ihre Augen lachen durch den Tränenvorhang.

Gut, dass sich das Leben nicht so leicht unterkriegen lässt. Gut, dass sich die Freude nicht für immer unterkriegen lässt. ,Wir haben uns entschieden, dass wir in diese Welt kein Kind mehr stellen können,' habe ich in den letzten Monaten gleich mehrmals von jungen Paaren gehört. Doch wie auch immer Welt und Winter aussehen: Der Frühling tritt den Beweis an, dass Leben immer besser als Nicht-Leben ist. Und das Leben immer auch Freude bedeutet. Über die in den Himmel schiessenden Narzissen wird man sich auch in Bachmut freuen. Und über die Störche, die auf dem Feld landen, in den Erdbebengebieten in Syrien und der Türkei.

Ich stosse auf eine kleine Geschichte, die Alexander Solschenizyn aus dem sibirischen Gulag erzählt. Und finde, ebenso wie um die Work-Life-Balance sollte man sich auch um die Sorgen-Zuversicht-Balance kümmern. Sie hält gesund. Und lebendig. Vielleicht hilft die anstehende Osterzeit etwas ausgleichen?

Wir sägten Holz, griffen dabei nach einem Ulmenbalken und schrien auf. Seit im vorigen Jahr der Stamm gefällt wurde, war er vom Traktor geschleppt und in Teile zersägt worden, man hatte ihn auf Schlepper und Lastwagen geworfen, zu Stapeln gerollt, auf die Erde geworfen - aber der Ulmenbalken hatte sich nicht ergeben!

Er hatte einen frischen grünen Trieb hervorgebracht - eine ganze künftige Ulme, einen dichten, rauschenden Zweig.
Wir hatten den Stamm bereits auf den Bock gelegt, wie auf einen Richtblock; doch wir wagten nicht, mit der Säge in seinen Hals zu schneiden. Wie hätte man ihn zersägen können? Wie sehr er doch leben will - stärker als wir!   Alexander Solschenizyn, 1979

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

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