Multiversum

Eine Welt ist nicht genug. Der Film Everything everywhere all at once hat letzte Nacht in Los Angeles gleich sieben Oscars abgeholt. Die stets am Rand eines Nervenzusammenbruchs lebende Einwanderin Evelyn Wang rettet nicht nur ihren Waschsalon, sondern in parallelen Wirklichkeiten gleich mehrere Welten. 

Sympathisch: Damit hat die kreative Kleinproduktion die seit Jahren rollende Multiversumswelle der gigantischen Superheldenfilme mit ihren eigenen Waffen geschlagen. 

Bedenklich: Der Titel benennt wohl mehr als eine Kinogeschichte. Jedenfalls werde ich den Verdacht nicht los: So wie das Feuerwerk von der Vergänglichkeitsmelancholie der Silvesternacht ablenkt, so die sprühende Multiversumsfantasie von der Resignation gegenüber der einen realen Welt. Unser Weltverzehr ist zuviel für einen einzigen Planeten. Ein Multiversum als Spielwiese wäre die Rettung. (Elon Musk macht mal einen Anfang mit dem Mars.) Sagte der James Bond an der Jahrtausendgrenze noch The World Is Not Enough, so sagt der Oscar in Kriegs- und Klimakatastrophenzeiten Everything everywhere all at once.

Ich erinnere mich an meinen Philosophieunterricht. Als Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) an der Welt verzweifelte, konnte er ihr und sich selbst noch einen gütigen, weisen und allmächtigen Gott gegenüberstellen. Bestimmt habe Gott in seiner Umsicht alle möglichen Universen gegeneinander abgewogen und sich in seiner Liebe letzlich für diese entschieden, die wir nun bewohnten. Wir lebten also gewiss in der besten aller möglichen Welten, auch wenn sie nicht vollkommen sei. Einem sich selbst Frage gewordenen und Antwort sein müssenden Menschen steht dieser Trost nicht mehr zur Verfügung. Er muss sich selbst trösten. Und schafft sich seine alternativen Welten virtuell. (Und existentiell gespiegelt seine alternativen Identitäten.)

Ich kann mir noch ganz andere Leben und Welten denken. Das ist eine meiner grossartigsten Fähigkeiten. Und der Boden dafür, Dinge immer wieder neu und anders und hoffentlich besser anzugehen. Ich weiss, dass es nicht so bleiben muss, wie es ist, weil ich mir andere Wege und Weisen vorstellen kann. Ich weiss, dass ich nicht so bleiben muss, wie ich bin, weil ich mir mich selbst anders denken kann. Ohne diese Vorstellungskraft kein Mut, keine Hoffnung, kein Engagement. 

Doch eben darin steckt auch das Wissen, dass ich letzlich nur einen Weg gehe, so viele andere auch denkbar sind. Ich lebe ein Leben in einer Welt und Zeit in einer Richtung. Und gerade weil ich mir viele Alternativen denken kann, stosse ich immer wieder auch schmerzhaft an die Grenzen meiner jetrzigen Wirklichkeit. Die Multioptionsgesellschaft bietet nicht nur die Freiheit unzähliger Möglichkeiten, sondern auch die Lähmung, sich entscheiden zu müssen, und den Schmerz, dass man auch weiss, wogegen man sich damit entschieden hat. 

The Road Not Taken

Two roads diverged in a yellow wood,
And sorry I could not travel both
And be one traveler, long I stood
And looked down one as far as I could
To where it bent in the undergrowth;

Then took the other, as just as fair,
And having perhaps the better claim,
Because it was grassy and wanted wear;
Though as for that, the passing there
Had worn them really about the same.

And both that morning equally lay
In leaves no step had trodden black.
Oh, I kept the first for another day!
Yet knowing how way leads to way,
I doubted if I should ever come back.

I shall be telling this with a sigh
Somewhere ages and ages hence:
Two roads diverged in a wood, and I-
I took the one less traveled by,
And that has made all the difference.

Robert Frost (1874 - 1963)

Übertragung Paul Celan:

Zwei Straßen gingen ab im gelben Wald,
Und leider konnte ich nicht beide reisen,
Da ich nur einer war; ich stand noch lang
Und sah noch nach, so weit es ging, der einen
Bis sie im Unterholz verschwand;

Und nahm die andre, grad so schön gelegen,
Die vielleicht einen bessern Weg versprach,
Denn grasbewachsen kam sie mir entgegen;
Jedoch, so weit es den Verkehr betraf,
So schienen beide gleichsam ausgetreten,

An jenem Morgen lagen beide da
Mit frischen Blättern, noch nicht schwarz getreten.
Hob mir die eine auf für’n andern Tag!
Doch wusste ich, wie’s meist so geht mit Wegen,
Ob ich je wiederkäm, war zweifelhaft.

Es könnte sein, dass ich dies seufzend sag,
Wenn Jahre und Jahrzehnte fortgeschritten:
Zwei Straßen gingen ab im Wald, und da –
Wählt‘ ich jene, die nicht oft beschritten,
Und das hat allen Unterschied gemacht.

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch


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