Herdenidylle

,Ein Schaf kommt zum Coiffeur und sagt: Mäh!'

Alle Jahre wieder nach Ostern: ,Hirtensonntag' (Misericordias domini). Psalm 23 (Der Herr ist meine Hirte) darf nicht fehlen. Gerne auch süsslich gesungen. Dazu kommen der gute Hirte, das verlorene Schaf und andere biblische Stellen mit dem Hirtenbild.

Auch der 1. Petrusbrief nimmt das Bild auf (5,1-4). Es ist diesmal für die Predigt vorgeschlagen. Ich bin auswärts auf Kirchenbesuch. Es blökt durch die ganze Feier, ist von Herde, Mit-Schaf und Oberhirte die Rede. Die fromme Seele darf weiden. Auf dem Schaffell liegt man weich.

Ich frage mich, was die Jurastudentin Julie und der Lastwagenfahrer Paul denken, wenn sie Schaf genannt werden. War das beste biblische Schaf nicht das Opferlamm. Na prima...

Ich versuche mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal eine Schafherde gesehen habe. Es ist lange her. Der Hirte war eine junge Aussteigerin. Der Hund bewegte sich unermüdlich. Die Schafe bewegten sich ermüdlich. 

Es dürfte schwer sein, in unserer überbauten, übernutzten und überstrukturierten Landschaft überhaupt noch eine zugängliche Weide zu finden. In den Kirchen mögen sich Herden versammeln. Vor der Tür wird fleissig gezäunt und heulen die Wölfe.

Ob Petrus tatsächlich den Brief seines Namens geschrieben hat, ist umstritten. Als Fischer hätte er dem Weide- vielleicht ein Wasserbild vorgezogen. Fische werden nicht gehirtet. Sie funktionieren mit Schwarmintelligenz. Reformiertem Kirchen- und helvetischem Demokratieverständnis läge das näher.

Letzte Woche wurde des Warschauer Ghettoaufstands gedacht. Am 19. April 1943 erhoben sich die verbleibenden Bewohnerinnen und Bewohner gegen die tödliche Besatzungsmacht. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, sagt, die bleibende Botschaft des Aufstands sei, dass sich Jüdinnen und Juden nicht einfach wie Schafe zur Schlachtbank führen liessen. Ihr Widerstand war ein Aufstand der Menschenwürde, auch wenn er von Anfang an aussichtslos war.

Heute früh veröffentlichte die Credit Suisse den letzten Quartalsbericht, bevor sie endgültig in der UBS verschwindet. Die - 1,3 Milliarden Franken sind die desolate Bilanz einer traditionsreichen Institution, die mit saftigsten Boni die vermeintlich besten Hirten aus der ganzen Welt anlockte. 

Hirtenidylle und Hirtenalptraum liegen nicht nur nahe beisammen. Ohne Schafe, die ihnen ihre Hoffnungen vertrauensvoll überlassen, gäbe es sie gar nicht. Aktuell finde ich, der beste Hirtensonntag ist der Sonntag, der die Schafe selbst maximal empowert und aus dem Herdeneinerlei holt.

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch


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