Zittern

Vor einem Jahr wurde Butcha zum Fanal. Die Bilder toter Dorfbewohner zwischen zerschossenen Panzerfahrzeugen und verscharrter Zivilisten am Waldrand brannten sich der Weltöffentlichkeit ins Gedächntnis. Sie machten auch dem Letzten klar, was Krieg bedeutet: Ein Exzess von Hass, Gewalt und Zerstörung, dem nichts mehr heilig ist.

Von den Berichten in den Medien zum Jahrestag ist mir das Bild der Frau geblieben, die sich im Keller an ihre Bibel klammert. Mit ihm gehe ich in die Karwoche. Sie erinnert mich an den gefolterten Jesus am Kreuz, der sich, gottverlassen, an das Letzte klammert, was ihm noch bleibt: Genau diesen so abwesenden Gott. Worauf könnte man sonst noch hoffen?

Jewhen und Ljudmila Kusnezow haben das Grauen mit eigenen Augen gesehen. Das Haus des Ehepaares liegt an einer Kreuzung, wo die Russen Anfang März eine Strassensperre mit zwei Schützenpanzern errichtet hatten. Von da aus schossen sie auf alles, was sich bewegte. Die Soldaten feuerten auch auf das Haus der Kusnezows, mit Maschinengewehren und Granatwerfern. Weshalb, dafür hat das Ehepaar auch heute keine Erklärung.

Während zweier Wochen hätten sie mit einem Nachbarn im Keller ausgeharrt, ohne Licht, Strom und Wasser, erzählt Jewhen. «Wie Neandertaler.» Ljudmila sagt: «Mein Zittern hat nur dann aufgehört, wenn ich die Bibel in den Händen hielt.» Steigt sie heute in den winzigen Raum mit Regalen voller Einmachgläser hinab, kommen ihr die Tränen. Dieses Gefühl von damals, sagt sie, das lasse sie niemals los. Auf ihrem Handy zeigt sie Fotos von den Leichen, die vor ihrem Haus lagen. (NZZ, 1.4.23)

Philipp Roth

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