Emahoy

Kopfferien. Das Eintauchen in eine andere Welt, ohne dafür einen Koffer packen zu müssen. 

Vom grobkörnigen Schwarzweissbild oben an der Seite schaut mich eine junge Frau mit Kopftuch an. Emahoy Tsegué-Maryam Guèbrou starb am 26. März in Jerusalem, neunundneunzig Jahre alt. Sie stammte aus Äthiopien und war Pianistin und Ordensfrau. 

Ich höre ihren Namen zum ersten Mal. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, in Äthiopien nach Pianistinnen zu suchen. Geschweige denn in einem äthiopischen Kloster. Ich lese, dass es in den 1960/1970er Jahren in Addis Abeba eine Musikszene gab, die Äthiopien ein ,Goldenes Zeitalter der Popmusik' bescherte. Traditionelle äthiopische Musik, Jazz aus den USA, afrikanischer Soul und Funk und klassische westliche Musik verwandelten die Hauptstadt in ein ,Swinging Addis'.

Ich suche Emahoy auf YouTube und höre eine innige musikalische Sprache, die Satie, Monk und Mozart in sich aufgenommen und was ganz Eigenes daraus gemacht hat. 

Emahoy wurde im Dezember 1923 in eine bekannte äthiopische Familie geboren. Mit 6 Jahren kam sie mit ihrer Schwester in ein Schweizer Internat. Sie erhielt Geigen- und Klavierunterricht, und als sie 1933 heimkehrte, spielte sie vor Kaiser Haile Selassie. Zwei Jahre später überfiel Mussolini das Land. Selassie musste fliehen. Emahoy kam in ein Lager. Drei Brüder wurden hingerichtet. Nach dem Krieg nahm sie das Studium ihrer Instrumente wieder auf: 4 Stunden Geige, fünf Stunden Klavier, täglich.

Hilft Musik gegen die Schrecken der Welt? Emahoy fiel in eine tiefe Depression. Während Tage trank sie nur noch Kaffee. Als sie ins Spital kam, hing ihr Leben an einem seidenen Faden. Ein orthodoxer Priester reichte ihr die Sterbesakramente. Wieder bei Kräften machte sie sich auf den Weg zum Gishen Miriam Kloster, zu dem sie seit jungen Jahren gehörte. Das Kloster hatte weder fliessend Wasser noch Strom. Man schlief auf dem Boden und ging barfuss. Bis sie zehn Jahre später wieder zur Mutter nach Addis Abeba zog, machte sie keine Musik. Nun studierte sie intensiv die litrgische Musik der äthiopisch-orthodoxen Kirche. 1984 zog sie zu ihrem Orden in Jerusalem, wo sie in diesem Jahr starb.

,Wenn ich die Religiosität in ihrer Musik beschreiben sollte,' sagt ein Pianist und Komponist, der ihr Werk studierte, ,dann würde ich sagen: Sie ist ein Gebet, ein Gespräch zwischen ihr und dem Heiligen, ohne Seitenblick auf ein Publikum.'  

Bevor sie ins Kloster ging, wurde Emahoy ein Stipendium in der Royal Academy of Music in London angeboten, doch die äthiopischen Behörden verboten die Ausreise. Als sie vor 5 Jahren dazu befragt wurde, sagte sie: ,Es war Gottes Wille, dass es so kam. Ich wollte nicht berühmt werden, wirklich. Ich bat Gott, meinen Namen im Himmel zu schreiben, nicht auf Erden.'

Ein Glück, sie (dennoch) kennenlernen und ihre Musik hören zu können.
Zum Beispiel
Jerusalem.

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

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