biblisches Gericht

Ich bleibe an einer Notiz auf Seite 2 der Tageszeitung hängen. Die Bundespolizei Brasiliens hat Ermittlungen gegen den Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro (2019-2022) aufgenommen. Er steht im Verdacht, Juwelen, Schmuck und Uhren, die er bei Staatsbesuchen im Nahen Osten erhalten hatte, über Mittelsmänner in den Verkauf gebracht und den Erlös seinem Privatvermögen zugeführt zu haben. 

Während seiner Präsidentschaft trug Bolsonaro die Bibel oft wie ein Grundgesetz vor sich her. Bei seinen frauenfeindlichen, homophoben, rassistischen und antiwissenschaftlichen Äusserungen (Wikipedia) berief er sich gerne darauf. Seine Machtbasis hatte er bei den evangelikalen Predigern der Megachurches des prosperity gospels, die ihm seit seiner Taufe 2016 die Treue hielten. Zur Bewahrung des Schöpfung fanden diese hingegen nichts in ihrer Bibel. Die Abholzung des Amazonasregenwaldes nahm unter Bolsonaros Regierung stark zu. Als er die Wiederwahl verpasste, floh er nach Florida, wo bereits ein anderer Ex-Präsident ähnlicher Bauart seine Wunden leckte. (Seine Anhänger versuchten noch eine Art 6. Januar in Brasilia.)

Auch wenn Bolsonaro schliesslich dem Partido liberal angehörte, hatte seine Politik mit dem in Europa bekannten Liberalismus wenig zu tun. Und von einem theologischen Liberalismus, der gelehrt hatte, die Bibel mit historischem Bewusstsein, wissenschaftlicher Redlichkeit und selbstkritischem Nachdenken zu lesen, hatte er wahrscheinlich schon gar nie gehört. Also war ihm mein Grundbuch nicht mehr als ein Bündel Papier, dass er vor sich hertrug und ihm den Blick versperrte. Statt ihm einen gerechten und verantwortungsvollen Weg im Umgang mit seinem Amt zu weisen, war sie ihm ein gedudliges Instrument seiner Machtgelüste. Ein Jammer für das Christentum. Und erst recht für das brasilianische Volk.

Die Bundespolizei Brasiliens hat den Ermittlungen zu Bolsonaros Veruntreuung nun einen Codenamen gegeben. Er lautet 'Lucas 12:2'. Dort steht:   

Es gibt nichts Verborgenes, das nicht sichtbar wird,
und nichts Geheimes, das nicht bekannt wird.
 

Ich stell mir vor, wie Bolsonaro die Stelle in seiner Bibel nachschlägt.

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

(Quelle: NZZ, 14.8.23)


 

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