Einander tragen

Sie sehen zuerst und von nahe aus wie Liebende, sie sich nach langer Trennung in die Arme fallen. Die Gesichter an der Schulter vergraben, die Augen geschlossen, halten sie sich tief umschlungen. Zwei Körper so nahe, als wollten sie sich einverleiben. Ringsum sitzen Menschen im Kreis.
Dann, als das Bild zurückfährt, sieht man, dass nur die eine Person die andere auf diese Weise fasst. Die Arme der anderen hängen schlaff herunter. Sie liegt mit dem ganzen Gewicht auf ihrer Trägerin. Als diese sich in die Mitte des Kreises bewegt, schleift sie die Füsse des anderen Menschen mit. Die Last eines ganzen Menschen liegt auf ihr. Sie beugt sich nieder, stützt den Kopf der Person, die ihr anvertraut ist, und versucht sie, so sanft wie möglich, ohne sie zu schrecken und zu wecken, auf den Boden zu legen. 

Es geht mir durch den Kopf, wie wir, nach langer Heimfahrt, versuchten, die bereits grossen, schlafenden Kinder aus dem Auto zu heben und hoch ins Zimmer in ihr Bett zu tragen. Ein Moment innigster Verbundenheit, in dem keine Mühe und Sorgfalt zu viel war. Man schlang den einen Arm um das, was man liebte, legte seinen auf die Schulter, schützte mit der anderen seinen Kopf, wenn es aus der Tiefe des Sitzes hob, und lächelte noch selig, wenn es kurz aufseufzte, von der Bewegung kurz im Traum gestört.

Dann schiebt sich das Bild des Mannes davor, der seine 'grosse', schwer beeinträchtigte Schwester aus dem Rollstuhl nimmt und eine Treppe hoch zu einer Aussichtsbank trägt, damit sie auch sehen kann, was er mit seinen gesunden Beinen vermag: Der Blick hinüber zu den Alpen. Er kniet sich vor den Rollstuhl. Sie wirft sich über ihn. Er trägt sie, umschlingt sie. Ein Augenblick äusserster Fürsorge.

Oder sie Pflegefachfrau, die den alten bettlägrigen Mann auf die Seite rollt, auf er Matrazenkante aufrichtet und auf den Stuhl daneben hebt, damit er zuschauen kann, wie sie sein Bett frisch bezieht. 

Der Bericht ist nur kurz. Der Film über die Tanzsszene in Israel gibt Einblick in ein Stück von Yasmeen Godder. Die Mitglieder der Company laden die Zuschauerinnen und Zuschauer im Kreis ein, sich tragen und in die Mitte legen zu lassen. Wildfremde werden sich zu Allernächsten. Die junge Tänzerin lädt den älteren Herrn ein, der sich wohl nur mühsam im Kreis auf den Boden setzen konnte. Die übergewichtige Frau, die vielleicht Mühe hat, ihren Körper anzunehmen, wird von einem jungen strahlende Tänzer umschlungen und ins Herz der Gemeinschaft getragen.

Das Stück heisst Simple Action / Einfache Handlung. Yasmeen Godder erzählt, dass das Stabat Mater sie dazu inspiriert hat. Das Stabat Mater erzählt vom Schmerz Marias um ihren Sohn. Als sie ihn von Kreuz nehmen, hält sie ihn in ihren Armen, den grossen Sohn, ganz klein, engumschlungen, ewig verbunden.

Wie berührend, was Menschen anderen Menschen sein können, wenn sie für einen Moment ganz für sie da sind. Simple Action. Maximale Wirkung.

Helft einander, eure Lasten zu tragen.
So erfüllt ihr das Gesetz, das Christus uns gibt.
Paulus, Galater 6, 2

Philipp Roth  

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

Yasmeen Godder, Simple Action, Trailer

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