geistige Fernbeziehung

Die Müdigkeit

Manchmal bin ich so müde, dass ich im Stehen, mit offenen Augen, einschlafe. Sobald ich sie schliesse, werde ich wach.

Immer wieder das Erstaunen, wie sehr Menschen, die sie gar nicht persönlich kennen, Jugendlichen zu Freundinnen und Freunden werden können. Sie leben mir ihren Stars und Idolen, als bewohnten diese das WG-Zimmer gleich daneben. Mit deren Hits und Abstürzen fahren sie in ihrer Gefühlswelt Achterbahn, während sie gerade auf den Bus zur Schule warten. Erstaunliche Nähe.

Bei mir selbst fallen mir solche ,geistigen Freundschaften' meist erst dann auf, wenn mir Todesnachrichten einen kleinen Stich ins Herz versetzen. Ich wundere mich über den Schmerz - und erinnere mich dann daran, dass mir dieser Mensch mal von Ferne ganz nah gekommen ist, manchmal durch eine Äusserung, Haltung, einen Film, einen Song, eine Ausstellung, oft durch ein Buch.

So geschehen vor einem Monat. Die Nachrichten meldeten den Tod von David Albahari (1948- 2023). Von einem Brocki hatte ich mal sein schmales Buch Mutterland nah Hause gebracht. Ich las es dann in solchen Sommerferien, in denen die Zeit träge und süss wie Honig fliesst. Ein nach Kanada ausgewanderter serbischer Mann fischt im Heimweh aus seinen Umzugskisten die Tonbänder, die die Mutter mit ihrer Lebensgeschichte besprochen hat, und gerät in einen Gedankenfluss zwischen Identität und Erinnerung, in dem sich die eigene, die Familien- und die zerrissene Geschichte des Balkans im 20. Jahrhundert verbinden.

Ich lese viele Bücher. Und oft weiss ich eine Woche später nicht mehr, was ich gelesen hab. Von Mutterland blieb die Erinnerung an den Ton, die Sprache, die Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und die Sensibilität gegenüber der Mutter. Ich weiss noch, wie ich einige Dinge im Buch markierte. Dann gab ich es weiter. Ich hab es nicht mehr.

Das stellte ich fest, als ich nach der Nachricht vom Tod von David Albahari danach suchte. Ich wollte die markierten Stellen wiederlesen und verstehen, was mich damals berührt hatte. Der alte 'geistige Freund' kam mir nochmals nahe. Sobald es möglich war, holte ich in dr Bibliothek, was sie von ihm hatte. In Heute ist Mittwoch erzählt er von einem Vater, bei dem erst mit der Parkinson-Erkrankung die Erinnerungen aufbrechen und in ein Gespräch mit seinem Sohn geraten. Die Gräuel der Geschichte aus Täter- und Opfersicht sind plötzlich Teil der Familiengeschichte.

Albahari hat sich immer kurz gefasst. Er schreibt kein Epos aus Adlerperspektive, sondern erzählt ein Kammerspiel, in das die Welt durch die Fenster und Mauerritzen einbricht. Er kann und will mir nicht erklären, wieso die Dinge so sind, wie sie sind. Er beschreibt sie einfach und weckt damit das Staunen, dass die Dinge so sind, wie sie sind. ,Erbaulich ist hier gar rein nichts:' schreibt ein Nachruf. ,Wer sich auf ihre Lektüre einlässt, muss bereit sein, alle Hoffnung fahren zu lassen. Er wird seine Seele durch den Fleischwolf gedreht sehen – und am Ende auf wundersame Weise beglückt und getröstet sein.' (NZZ, 31.8.2023)

Ich glaube, dieser letzte Satz trifft präzise meinen Nerv. Albahari leuchtet durch Bescheidenheit. Er ist ein grossartiger Schriftsteller, weil er möglichst genau sehen, verstehen und beschreiben will - und weil er nicht ein grossartiger Schriftsteller sein will. 

In Die Kuh ist ein einsames Tier treibt er seinen Stil auf die Spitze. Es sind nach dem Untertitel Kurze Geschichten und dauerhafte Wahreheiten über Liebe, Traurigkeit und den ganzen Rest. 1 -2 Minuten genügen. Die Miniaturen sind so karg und genau, dass sie maximal offen fürs Nachdenken und für Bedeutungen sind. Das Eigentliche steht nicht auf dem Blatt. Es entsteht in mir. Es ist das Brevier, das mich dieser Tage begleitet.

In Die Müdigkeit oben höre ich unser Heute ins Bild gebracht.
Und entlarvt Die Überwindung des Entsetzens nicht unseren Umgang mit dem Bedrohlichen?

Die Überwindung des Entsetzens

Der Passagier lugt durch das Bullauge seiner Kabine: Seiner Schätzung nach müsste das Schiff jeden Augenblick anlegen. Man sieht jedoch nirgends das Ufer, nirgends die Spur von einem Hafen. Vielleicht kann das Schiff aus irgendeinem Grund nicht in den Hafen einlasufen, vielleicht kommen Boote und bringen die Passagiere an Land? Aber was, wenn niemand kommt, wenn er für immer hier bleiben muss? Er spürt, wie seine Knie zittern, wie sich unsägliches Entsetzen seiner bemächtigt, und er muss sich auf die Kante des harten Bettes setzen. Er lauscht, wagt nicht zu atmen, schaut sich um, als erwarte er, dass jemand ihn etwas fragt. Niemand fragt ihn, und so legt er sich bald auf die Seite, schiebt die Hand unter die Wange und schläft ein.

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch



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