Kalenderzettel

Seit einigen Jahren flattert die Aufgabe im Herbst auf den Tisch: Einen Zettel für einen verbreiteten reformierten Andachtskalender schreiben. Man ist jeweils bereits am übernächsten Jahr. Und das Regime ist streng: Datum und zugehörige Bibelstelle sind vorgegeben. Die Zeichenzahl ist strikt begrenzt: 900 vorne, 1100 hinten. Eine gute Übung für Vikarinnen und Jungtheologen. Und für mich. Auf den Punkt kommen. Maximal reduzieren. Sprache entrümpeln. Und auch zu einer Stelle was sagen, die man nicht selbst ausgesucht hat.

Ich setze mich daran. Für den 27.Oktober 2025 soll ich was über Levitikus 8, 1-36 schreiben. Das Volk Gottes in der Wüste. Mose setzt seinen Bruder Aaron und dessen Söhne als Priester ein. Damit erhält die Begegnung mit Gott eine neue Struktur, getrennt von Mose. Aaron und Söhne kriegen den Auftrag, künftig die Volksseele vor Gott ins Gleichgewicht zu bringen. Im Zelt der Begegnung (Stiftshütte) fliesst viel Tierblut -  Gott zum Dank und Gott zur Bitte. Es ist die Begründung des Opferkults. Von hier und heute besehen erzählt die Geschichte einen aüsserst bizarren und archaischen Vorgang. Das ganze Volk schaut zu, als das mobile Zeltheiligtum sich in einen Schlachthof verwandelt und Bruder und Neffen zu Priester geweiht werden. Alles streng rituell, wohlgemerkt. Doch man kann sich schwer vorstellen, wie das auf die Dauer gut gehen soll. Priesterskandale ahoi...

Irgendwie ist die Kalenderaufgabe eine Flaschenpost aus der Vergangenheit. Sie atmet noch einen ,altreformierten' Geist, der immer seltener wird. Ich schnuppere gerne etwas daran. Und spüre gleichzeitig, wie er ferner und fremder wird. 

Es gehörte einst zu den reformierten Tugenden unzeitgemäss und schriftgemäss zu sein:

Unzeitgemäss
Getreu dem humanistischen Motto 'zu den Quellen' orientierte man sich in der geistigen Auseinandersetzung mit der Gegenwart damals nicht zuerst an ihr, sondern glaubte daran, aus den Lehren und Erfahrungen der Vergangenheit für heute klüger zu werden. Das braucht je länger je mehr Mut. Unzeitgemäss bedeutet heute Anschluss verpasst und völlig out. Man wundert sich, nichts aus der Geschichte gelernt zu haben, ohne dass man sich darüber wundert, nicht danach gefragt zu haben. Unzeitgmäss hört sich nach Umweg an. Doch Umwege führen auch an Dingen vorbei, auf die man sonst nicht kommt.

Schriftgemäss
Sola scriptura hiess ein Kampfruf der Reformation. Allein die Schrift. Der revolutionäre Geist ist daraus noch zu hören. Nicht gegenwärtige Mächte und Machthaber definieren, wie wir uns und die Welt sehen, sondern wir halten uns dafür an einen Codex von ganz anderswo her. Klar, die Bibel galt damals noch als Gottes Wort in einem fast substantiellen Sinn. Sie war Offenbarung. Das teile ich so nicht mehr. Doch teile ich die Erfahrung, dass die Anerkennung einer Inspirationsquelle ausserhalb meiner vier Wände und der Welt ringsum mir Freiheit und Weite schenkt. Aus 2D wird 3D. Das Hören auf diese fremde Schrift bringt mich auf neue Wege und andere Gedanken. Es werden mir Dinge gesagt, die ich mir nie selbst hätte sagen können. Und geht man dafür weite Umwege. 

Der Kalender glaubt an die alten reformierten Tugenden. Du kannst in dieser alten Quelle bohren, wann du willst und wo du willst: Du wirst was finden, für dich heute. Ich finde das befremdlich. Und charmant.

Philipp Roth  

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

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Zu Levitikus 8 kam mir Folgendes in den Sinn:

Vorderseite (900 Zeichen)

Und Mose machte es, wie der Herr es ihm geboten hatte, und die Gemeinde versammelte sich am Eingang des Zelts der Begegnung. Lev 8, 4

Es ist eine Zumutung. Doch von Geschehen im Zelt soll nichts geheim bleiben. Weder Gewaltenteilung noch Einsetzung eines Opferkults. Was sich die Aussenstehenden dabei denken? Für Mose ist klar: Gute Macht ist geteilte Macht. Die Begegnung mit Gott ist nicht sein Monopol. Mit Aaron und seinen Söhnen verteilt sich die Verantwortung auf mehrere Schultern. Das Opfern gehorcht nun klaren Regeln. Sie sind für alle transparent.

Man kann Mose vorwerfen, dass grosse blinde Flecken bleiben: Noch ist alles Familiensache. Drei Auserwählte sind noch nicht das ,Priestertum aller Gläubigen'. Und Tiere bezahlen für die Menschen mit ihrem Leben. Von heute aus gesehen eine Zumutung. Doch der richtige Weg beginnt mit Schritt eins. Und der ist gut. Weitere müssen folgen. Bis heute.

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Rückseite (1100 Zeichen)

Er gehörte zu den Stillen im Land. Mit den Alphatieren seiner Zeit konnte und wollte er nicht mithalten. Dennoch wurde der Reformator und Humanist Philipp Melanchthon später ,der Lehrmeister Deutschlands' genannt (Preaceptor Germaniae).
Im Mai 1526 hielt er bei der Einweihung einer neuen Schule in Nürnberg die Festrede.
Dabei sagte er Folgendes:

,Wenn auf eure Veranlassung hin eure Jugend gut ausgebildet ist, wird sie eurer Vaterstadt als Schutz dienen. Denn für Städte sind nicht Bollwerke oder Mauern zuverlässige Schutzwälle, sondern die Bürger, die sich durch Bildung, Klugheit und andere gute Eigenschaften auszeichnen.
Die Spartaner sagten, die Mauern müssten aus Eisen, nicht aus Stein sein. Ich aber bin der Meinung, dass eine Stadt nicht sosehr durch Waffen wie durch Klugheit, Besonnenheit und Frömmigkeit verteidigt werden soll.'

 

 

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