wortreich

Die US-Autorin Joyce Carol Oates (*1938) schrieb bis heute 63 Romane, 47 Bände Erzählungen und zahllose Theaterstücke, Kinderbücher, Gedichte und Librettos. 1973 begann sie ein Tagebuch, das in 26 Jahren auf über 4000 Seiten anwuchs bis es vom E-Mail-Zeitalter abgelöst wurde. 

Sie war bereits 18 Jahre alt, als sie noch eine Schwester kriegte. Sie hat am gleichen Tag Geburtstag und waren sich zum Verwechseln ähnlich. Joyce Carol suchte den Namen aus: Lynn Ann. Sie kam, als Joyce Carol gerade ins College auszog und sei zuhause sowas wie ihre ,Neubesetzung' gewesen. ,Ein Spiegelbild, einfach leicht verdreht,' schreibt sie. ,Eine Zwillingsschwester, 18 Jahre auseinander.'

Doch im Gegensatz zur unermüdlich sprudelnden schwesterlichen Wortquelle, lernte Lynn Ann nie, einen einzigen ganzen Satz zu sagen. Joyce Carol erinnert sich nur an spitze Schreie, grunzende Laute und wie sie mit den Zähnen Buchseiten zerriss. Bald wurde bei ihr schwerer Autismus diagnostiziert. Der Vater sagt, er wünschte ,Joyce könnte etwas an Lynn abgeben'. 

Es ist, als ob die ältere Schwester alle Worte vorweggenommen hätte.

Die Bibel nennt Christus manchmal ,das Wort Gottes' (zB Johannes 1). Und ich frage mich einen Moment, ob diese Geschichte ein Bild dafür ist. Ich stammle und stottere und versuche zu verstehen und bin mir doch oft unsicher, ob das mehr als ,spitze Schreie' und ,grunzende Laute' sind, ein Zerreissen des Buches, griechisch biblos, mit meinen Gedankenzähnen. Während im Grund in dem einen gesprochenen Wort alles schon vorweggenommen ist.

Philipp Roth   

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

 


 

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