Predigen I: Lächerlich

Kanzel Matthäuskirche Basel
Bild Heinrich Gerber

,Nun, da ich etwa ein Dutzend mal gepredigt habe, finde ich, dass ich mich zu wiederholen beginne,' schreibt Reinhold Niebuhr 1915 in sein Tagebuch. Er war gerade frisch vom Seminar in die Arbeit in der Evangelischen Gemeinde Bethel in Detroit eingestiegen und schon machte sich das klamme Gefühl im Magen bermerkbar. ,Die paar Ideen, die ich im Seminar in Predigten einarbeitete, sind alle bereits aufgebraucht. Und nun?'

Niebuhr sei gerade 23 Jahre alt gewesen, als er ins Pfarramt nach Bethel berufen wurde, lese ich. Und so scheu, dass er oft einige Male an den Türen seiner Gemeindemitglieder vorbeigeschlichen sei, bis er zu klopfen wagte. ,Es hat was Lächerliches, einen unreifen jungen Narr zum Predigen vor diese guten Leute hinzustellen. Ich rede schlau vom Leben und weiss wenig von seinen Problemen. Ich spreche von der Notwendigkeit, Opfer zu bringen, obwohl die meisten von ihnen mir etwas davon erzählen könnten, was das wirklich heisst.'

Niebuhr wusste, dass die Predigt das Kernstück des Gottesdienstes war und ganz die Aufgabe der Pfarrperson, egal wie alt oder erfahren. ,Ohne eine angemessene Predigt gibt es keinen Schlüssel zur moralischen Aufgabe im Herzen des Geheimnisses und die Verehrung bleibt ohne ethischen Gehalt.' 

Die Praktikantin geht mir durch den Kopf, die bereits beim zweiten Gottesdienst sagte: Im Grund bin ich nun leergepredigt. Mehr habe ich nicht. Und ich versuche mich daran zu erinnern, was ich darauf entgegnet habe. Vermutlich sagte ich was von Wiederholung. Das immer gleiche immer wieder neu zu sagen. Wie in der Liebe. Oder mit Kindern. Oder mit dem Frühling. Oder beim Spielen. Oder im Kino. Oder beim Musik machen.
Predigt ist nicht Informationsvermittlung: Ich sag dir was, was du noch nie gehört hast. Sie ist Erinnerung an das, was vorausgeht, zugrunde liegt und trägt: Komm, erzähl nochmal, wie war das mit der Güte, der Gerechtigkeit, der Nächstenliebe. Play it again, Sam.

Das Gefühl, nichts mehr zu sagen zu haben, entspricht dem weissen Blatt bei Schriftstellerinnen und Schrifstellern. Und es ist vermutlich kein schlechtes, sondern ein notwendiges Gefühl. In der manchmal unerträglichen Spannung zwischen dem, was man soll, und dem, was man kann, übe ich mich in eine Haltung der Demut und Empfänglichkeit ein. In diesem Zwischenraum verbirgt sich die Quelle der Kreativität. Schreibende, die ihre Zeilen der Wüste abgerungen haben, sagen mir mehr als nie versiegende Plaudertaschen. Bei Eloquenten hingegen hört man manchmal vor allem eins: Eloquenz. 

Das weisse Blatt ist auch die Leinwand des Werdenden. Da ist Raum für etwas, das kommt. Und es wird kommen. Bis dahin: Geduld, Dranbleiben, Suchen, viel Arbeit und Vertrauen. 

Aus Reinhold Niebuhr wurde einer der einflussreichsten Prediger des 20. Jahrhunderts in den USA. Martin Luther Kind jr. und Barack Obama beriefen sich auf seinen Einfluss.

Zwischen mir und dem Nichts nur noch eines: das Wort. Vielleicht nicht die schlechteste Ausgangslage. Und eine Wahrheit, die sowohl existentiell wie theologisch unglaublich produktiv ist. Wenn da eine Quelle ist, dann muss sie in diesen Zeilen auf Dünndruckpapier zu finden sein.

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch


 


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