El Capitan
Gefragt, wann er beim Klettern am meisten Angst gehabt habe, erzählt er, wie er nach einem Wanddurchstieg fast von der eigenen Kletterutensilien, die er in einer Tasche hinter sich hergezogen hatte, zurück in die Tiefe gerissen worden wäre. Durch deren Fall wurde er oben von den Füssen gerissen und zum Angrund gezogen. Er versuchte sich an Steinen, Wurzeln und Erde festzuhalten, bevor er über die Kante ging. Was ihm schliesslich auch gelang. ,Das war ziemlich knapp,' sagt.
Das erschreckendste Erlebnis jedoch hatte er am Rande des Kletterns. Als er sich im Jahr 2000 für ein Fotoshooting in Kirgistan aufhielt, wurde seine Gruppe von IS-Rebellen gekidnappt. Sie gerieten zwischen Feuergefechte mit der kirgisischen Armee und mussten sich manchmal stundenlang hinter Felsen ducken. Ohne Proviant wurden sie sechs Tage durch die Berge getrieben, in der Nacht dem Erfrieren nahe, am Tag sich vor der Armee versteckend. In unbeobachteten Momenten planten sie die Flucht. Als sie eines Nachts von nur einem Kämpfer bewacht wurden, schlich Caldwell sich von hinten an und stiess den IS-Kämpfer über die Klippe. Sie erreichten das Armeelager und wurden zuhause wie Helden gefeiert. Doch Caldwell war es nicht ums Feiern. Er wurde von Schuldgefühlen zerfressen.
Schliesslich kam aus, dass der IS-Kämpfer den Sturz überlebt hatte und nun im Gefängnis war. Caldwells Eltern sagen, das sei der Wendepunkt zur Genesung ihres Sohnes gewesen. Er selbst erinnert sich anders: Wohl sei er sehr erleichtert gewesen. Doch änderte die Neuigkeit nichts an dem, was er in diesem Moment über sich gelernt hatte: Dass er imstande ist, einen Menschen zu töten. Nie hätte er das von sich gedacht.
(Quelle: The New Yorker, Nov 29, 2021)
Philipp Roth
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