,katastrofa'

Alexandars Eltern führen ständig das bosnische Wort katastrofa im Mund. Dabei kann es zwischen einem Loch in der Socke und Bürgerkrieg alles bedeuten. Er stört sich an dieser negativen und dramatischen Sichtweise und versucht sie zu verstehen. Zu Besuch bei Alexandars afro-amerikanischen Schwiegereltern, wollen die Eltern unbedingt deren Lebensgeschichte hören. Als diese ohne grosse katastrofas daher kommt, meinen sie, diese würden ihnen etwas verschweigen. Das sei doch kein Leben. Für sie windet sich der Lebensweg um katastrofas, die man glücklich überstanden hat. Krankheit, Kriege, Armut, Flucht. Anders können sie es sich nicht vorstellen. Und nicht erzählen.

Vom eigenen Vater erzählt Alexandars Vater, dieser habe felsenfest geglaubt, es sei ein unmöglich, fünfzig Jahre alt zu werden, ohne einen Krieg zu erleben. 

Alexandars Eltern hatten den jugoslawischen Bürgerkrieg erlebt. Innert Tage hatten sich Menschen, die bisher nette Freunde und gute Nachbarn waren, in hasserfüllte Gegner verwandelt. Vor gerade noch biederen Bürgern musste man um sein Leben fürchten. Sie verliessen Sarajewo mit dem letzten Zug bevor sich der Belagerungsring schloss. Sie konnten nichts mitnehmen als sich selbst. Kanada nahm sie als Nachzügler auf. Ihr Sohn war bereits dort. Im Alter, wo andere beginnen, sich mit dem Ruhestand zu befassen, fingen sie nochmals bei Null an. 

Ich fragte meine Eltern einmal, was das Gegenteil von katastrofa sei. ,Das normale Leben,' sagten beide unisono. In ihren Augen ist das normale Leben eine Kategorie, die sich von selbst erklärt - ein Leben, das normal verläuft. (...) Mir wurde klar, dass ein normales Leben in ihren Augen ebenjenes war, das sie vor dem Krieg geführt hatten.  (Alexandar Hemon, Meine Eltern, S. 63)

Die Pandemie sei vielleicht so etwas wie Krieg, hörte ich vor einem Jahr gelegentlich. Mir sagt dieser Satz vor allem, wie glücklich wir auf unserer Schweizer Insel sind, dass wir überhaupt auf den Gedanken dieses Vergleichs kommen. Ich habe nicht selten den Eindruck, manche Ereignisse müssten wir ordentlich dramatisieren, um unsere Geschichte anhand von katastrofas erzählen zu können. Zugegeben: Ein Leben anhand von Glücksfällen oder gar gnädigen Fügungen zu erzählen, ergibt keinen Thriller. ,Normales Leben' reisst uns nicht aus den Sitzen. Doch weshalb muss es das auch? Ein ,Tatort' jedoch braucht katastrofas. Dankbarkeit und Zufriedenheit stehen sie jedoch nicht selten im Weg.

Ich frag mich manchmal, woher unsere Besessenheit an Wetterberichten kommt. Wir wohnen und arbeiten doch meist so, dass das Wetter für unseren Alltag höchstens kosmetische Bedeutung hat. Nur wenige verbringen den Tag auf dem Feld oder einer Baustelle.
In einer Lebensgeschichte, die sich durch katastrofas und Schicksalsschläge strukturiert, bietet der Wetterbericht den Blick in die Zukunft. Er erlaubt, katastrofas kommen zu sehen und sich darauf einzustellen. Der Umgang mit dem metereologische Wetter (vorhersagbar) erlaubt es, die Unwägbarkeiten des ,Lebenswetters' (nicht verhersagbar) in homöopathische Dosen einzuteilen und symbolisch zu bewältigen. 

Alexandar ist so ehrlich und stellt es bei sich selbst fest: Mit mehreren Apps beschäftigt er sich täglich detailliert mit den Wetterprognosen.

Im Grunde ist mir das Wetter egal, weil ich kaum etwas tue, das davon abängig ist. Mir geht es nur um die Zukunft, ich sorge mich nur um eine mögliche Katastrophe. (S. 65)
,Was, denken Sie, war das Schöne in ihrem Leben?' lautet oft eine meiner Schlussfragen bei einem Trauergespräch. Und umgekehrt: ,Was, denken Sie, war das Schwere in seinem Leben`?' Oft ist es so, dass die Angehörigen nur bei einer der beiden Fragen viel erzählen können. Und wenn ich es mir überlege, hängt das oft weniger am Leben, das sie mir erzählen, sondern an ihrer Sicht darauf. 

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

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