Kontemplation?

Jan Vermeer, Brieflesendes Mädchen
am offenen Fenster, bis 2017
Ein junge Frau steht am offenen Fenster und liest einen Brief. Wie ein Wasserfall im Frühling fällt der dunkelrote Vorhang über den offenen Fensterflügel. Die Schale mit Früchten im Vordergrund ist umgekippt , die Decke darunter zerzaust. Die Frau steht im Licht. Und man stellt sich leise dazu und wird ganz still. Man sieht viel. Und sieht vor allem, was man nicht sieht: In Licht und Farben gewobenes Geheimnis.

In meinem kleinen reformierten Lexikon gehört Jan Vermeer van Delft zu den berühmten Protestanten. Er malte in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Und machte sich dabei rar. Nur gut 30 Bilder zählt man heute. Das macht ihn umso berühmter. 

,Die Briefleserin' gehört zu den frühen Meisterwerken. Für manche ist sie ein Ikone bürgerlicher Bildung, gar Emanzipation. Statt in den lärmigen Wirtstuben und auf den schmutzigen Gassen vergnügt sich die junge Frau still lesend im gepflegten Raum und bildet ihr Herz. Andere legen den Akzent noch mehr auf die Kontemplation. Wie Maria, die die Engel Gabriel auf alten Bildern meist lesend antraf, beschäftigt sich die junge Frau nicht mit Äusserlichkeiten. Ihre Augen sind gegen innen gewandt. Vermeer war ein Maler des positiven Sittenbilds mit Erziehungswert.

,Die Briefleserin' hängt bei den Alten Meistern in Dresden. Letzten Herbst fand dort eine grosse Vermeer-Ausstellung statt. Die Zeit-Tickets waren Wochen voraus ausgebucht. Im Zuge der Ausstellungsvorbereitung wurden die Werke aufwändig wissenschaftlich untersucht. Und siehe da: Plötzlich war die Briefleserin nicht mehr allein im Raum. Auf  der Wand hinter ihr, unter der grauweissen Farbschicht, fand man einen drallen nackten blondgelockten Amor. Mit der rechten Hand stützt er sich auf seinen Pfeilbogen. Am Boden liegen ein paar Spielzeuge.

Man fand heraus, dass die Übermalung vor ca 200 Jahren, lange nach Vermeer, vorgenommen wurde. Aus welchem Grund auch immer: Offensichtlich störte sich der Besitzer an dem nackten Fleisch. Genug, dass es das Menschlich-Allzumenschliche gibt. Man muss es nicht noch ausstellen. Die helle Wand hinter der Briefleserin machte aus was Profanem was fast Sakrales. Andachtsbild statt Liebesbild.

Jan Vermeer, Brieflesendes Mädchen
am offenen Fenster, heute

Nun lese ich, dass der verborgene Amor Insidern schon seit langem bekannt war. Bereits in den 80-er Jahren kam er beim Röntgen zum Vorschein. Weil die Untersuchung nicht bewilligt war, durfte das Ergebnis nicht veröffentlicht werden. 

Hat das Bild nun gewonnen oder verloren? Entlarvt sich der Kontemplationsmaler nun mit dem unzweideutigen Amor selbst?

Mich beschäftigt dieses Übermalen. Das Unangenehme, Anarchische, Fleischliche und ,Nichtgeistige' wird bewusst ausgeblendet. Man schafft sich die Welt so, wie sie einem gefällt. Die Wirklichkeit wird dabei keine andere - 'alternativ reality' -. Sie wird eine partielle, die als die ganze und ideale behauptet wird. Unter einen dünnen Tünche bleibt alles da.

Auch die Kirche hat sich immer wieder gerne solche Räume der Kontemplation geschaffen. Als Teilräume des Lebens sind sie wunderschön und wohltuend, gänzlich unproblematisch. Als Totalräume jedoch gefährlich und unrealistisch. Die Missbrauchskandale werden das solange zeigen, bis man ihre Totalansprüche (Zölibat) aufgibt. Das Verkennen und Verleugnen der menschlichen Natur geht nicht nur gegen den Menschen, sondern auch gegen den Schöpfer, der den Menschen geschaffen hat - in Fleisch und Blut.

Und erst jetzt wieder kommt das vom Künstler wohl intendierte Spannungsfeld zum Tragen zwischen äusserlicher Ruhe und innerer Bewegtheit, von heimischer Abgeschiedenheit, amouröser Heimsuchung und heimlichem Aufgehen des Herzens. Das Bild oszilliert zwischen Kontemplation und Ausschweifung. Das Fenster ist weit geöffnet, der Vorhang vor Amor zur Seite gezogen, und die Früchteschale, voll mit glänzenden Äpfeln und pelzig-zarten Pfirsichen, bereits in fliessende Schieflage geraten: Liebe und Laster stehen gleichermassen vor den Pforten. Nein, beide sind schon da, Amor an der Wand hat sie längst hereingelassen. NZZ, 10.9.2021

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

 

 

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