Orientierungssinn

Ich kann mich ganz gut orientieren. Ich erinnere mich an Dönerbuden, Graffities und Scherenschnitte in Kinderzimmerfenstern, an denen ich schon mal vorbeigekommen bin. Der eingewachsene Altwagen neben der Gartenhecke, die alte Platane und die Weggabelung mit der blauen Bank kommen mir bekannt vor. Intuitiv scheine ich irgendwie auch Geländeformen, Lichteinfall oder Windrichtung einzubeziehen. Was jedoch nicht heisst, dass ich nicht auch schon komplett falsch gewickelt war. Aus einer U-Bahn-Station hochkommend, muss ich mich vor dem Stadtplanausschnitt neu ausrichten. Flache Wälder mit gleichbleibendem Baumbestand narren meinen Orientierungssinn regelmässig. Nichts geht über einen Hügel in der Nähe, ein altes Industriekamin oder die Rochtürme. Im Zusammenspiel sind sie unschlagbar. Je hilfreicher, desto mehr sie sich von der Niederung abheben. Von Weitem bedeuten sie mir, wo's lang geht.

Ich frag mich, weshalb mir nicht schon früher aufgefallen ist, dass in der 'Orientierung' der Orient steckt. Stand der ,Orient' von lateinisch ,oriens' schon im Mittelalter für das Morgenland oder die Länder Richtung Sonnenaufgang, ist das heutige 'sich orientieren' auch erst spät in die deutsche Sprache eingewandert. Was in Frankreich 's'orienter' hiess, hiess östlich des Rheins lange noch 'osten' und bedeutete das Ausrichten der Gotteshäuser Richtung Sonnenaufgang - und zwar der christlichen, jüdischen und später auch muslimischen Gotteshäuser. So meinte ,sich orientieren' ursprünglich also das Justieren an einer Kontante, die nicht nur fern, sondern auch nicht von dieser Erde war und mit ihrem Licht alles überstrahlte: die Sonne. Dabei war der primäre Zweck, die Altarseite bzw. die Seite des Chors am Frühgottesdienst in das Morgenlicht zu stellen.

Für einen Moment berührt mich das. Die im Nahraum unermüdlichen Zankäpfel richten sich im Grundsatz am gleichen lichtvollen und fernen Fixpunkt aus. Dieser erneuert sich nicht nur tatgtäglich, sondern entzieht sich allen Versuchen, ihn allein für sich zu reklamieren.

In der Geschichte der Weisen aus dem Orient, die dem Kind in der Krippe Geschenke bringen, übernimmt der Stern die Funktion des Orientierungspunktes. Interessanterweise verlieren auch sie im Nahraum die Übersicht. Zugvögel, von der Lichverschmutzung verwirrt. Statt zum in den Stall stolpern sie in den Palast des Schurkenkönigs Herodes. Mehr falsch könnte man gar nicht sein. Knapp daneben ist oft voll daneben. Ein Glück, dass sie ihr Ziel noch nicht ganz aus den Augen verloren hatten. Der Stern führte schliesslich auf einem anderen Weg nach Hause. 

Nun glaube ich nicht, dass Sterne uns Wege zeigen oder Zukunft deuten. Menschen, die zu mir kämen mit der Begründung 'ihrem Stern zu folgen', müssten mir schon mal länger erklären, was sie damit meinen. Und es nähme mich schon wunder, was die Weisen, zuhause angekommen, über ihren Fund berichteten. Irgendwie waren sie ja die ersten ,Weihnachtschristen', also Menschen, die den Mann aus Nazareth nur als Kind in der Krippe kennengelernt hatten, nicht jedoch vom Bergprediger, Menschenheiler, Wasserläufer oder gar Gekreuzigten und Auferstandenen. Was hatten sie also tatsächlich ,gesehen'?

Dass es für die eigene Orientierung jedoch entscheidend ist, einen unverfügbaren Fixunkt ausserhalb der eigenen Rechweite und Einflusssphäre zu kennen, finde ich einen tatsächlich weisen Gedanken. Er könnte dem eigenen Denken und Handeln immer wieder erfrischende Horizonterweiterung verschaffen. Und auch in anderer Hinsicht ist es immer wieder gut zu hören: Aus dem Osten kommen nicht nur Flüchtlinge und Kriegsnachrichten. Aus dem Osten kommt das Licht. Sich daran orientieren / osten.

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

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