chinesisch glücklich

Wie es sich wohl anfühlt, chinesisch glücklich zu sein? 

Ich habe von der Olympia-Eröffnungsfeier nur wenige Bilder gesehen. Sie waren traurig genug. Dass zwei, zwölf oder gar fünfzig Menschen sich Synchronisieren können und wie ein einziger Körper bewegen, fand ich als Kind faszinierend. Die Frauenriege mit den roten Tüchern, die Tambourentruppe, die Clowns im Zirkus mit der Spiegelnummer. Neugierig und wild, wie ich war, verstand ich intuitiv, wieviel es brauchte, dass diese Einheit möglich war: Jede und jeder musste sich selbst zurücknehmen, musste die eigenen Ideen und Impulse beiseite lassen, auch das Bedürfnis, aufzufallen oder anzuführen. Der individuelle Geltungsdrang musste gezähmt und dem gemeinsamen Willen untergeordnet werden. Eine beachtliche Leistung. Selbstbescheidung für ein gemeinsames Ziel, in das man vom Anfang an eingebunden war. Noch heute knüpfe ich daran an, wenn ich in einem Chor singe oder eine Gedenkminute mitschweige. Gewisse Dinge entstehen erst, wenn viele Einzelne sich zurücknehmen und in etwas Grösseres einfügen. Und solche Dinge sind schön.

Dann sah ich die Schwarzweissfilme mit den Fackelmärschen der Nazis. Am ersten Mai marschierten in der Tagesschau Tausende von Unformierte im Stechschritt vor eine Tribüne mit Männern vorbei, die wie Weihnachstbäume behängt waren, im Hintergrund die Zwiebeltürme der Kathedrale am Roten Platz. Als ich selbst eine Uniform anzog, konnte ich nur noch ironisch mit dem ,Rechts um!' und ,Augen links!' umgehen. Ich hatte nichts dazu zu sagen, ob ich dieses Marschieren und gleichförmig Werden wollte oder nicht. Das Ziel war mir nicht klar. Wir lachten über den, der rinks mit lechts velwechserte. Seither kann ich Massenchoreographien, die über die Beteiligten verfügen, nicht mehr bewundern. Ich sehe in ihnen nicht den freien Ausdruck eines gemeinsamen Willens, sondern die Geste der Unterwerfung unter eine Macht, die sie ihrer selbst beraubt, indem sie sie uniform macht und alle Unterschiede und Individualitäten einebnet. Diese Macht kann kapitalistischer oder politischer Natur sein. Was Totalitäres haftet ihr so oder so an. 

Ich weiss nicht, wieviel Personal es braucht, um ein Stadion wie das Vogelnest zu bespielen. Kann man sowas nicht auch ohne Menschenameisen inszenieren? Persönlicher? Auf den Bildern lächeln sie alle. Als gehörte das Lächeln zur Uniform. Mir tun die Menschen leid. Und ich frage mich: Haben sie sich freiwillig gemeldet? Werden sie bezahlt? Wurden sie aufgeboten und gezwungen, fröhliche Schritte und gute Miene in der weiten Arena zu machen? (Kümmert sich das IOK eigentlich um solche Dinge...?) Bei diesem Regime ist alles möglich. Eine Uigurin darf das olymische Feuer entzünden. Tausende andere sind in Arenen eingepfercht, in die keine einzige Kamera schauen darf, werden ihrer Sprache und Kultur, die Frauen ihrer Fruchtbarkeit und ungezählte ihres Lebens beraubt.

Wie es sich wohl anfühlt, chinesisch glücklich zu sein?

Man sieht dem Eröffnungsfeier nicht an, dass es um Sport geht. Denn darum geht es auch nicht. Man sieht ihr jedoch in jedem einzelnen Bild an, dass es um eine Demonstration geht. Was wird hier eigentlich demonstriert? Warum wird eine solche Demonstration global gesendet? Ich versteh es nicht.
Man müsste den Delegationen nur die Fahnen wegnehmen, und die Weltaufmerksamkeit wäre weg. Oder die Kameras abstellen und die Werbespots kappen. Ohne Nationalimus und Kapitalismus wäre Olympia nur noch, was es behauptet, sein zu wollen: Sport.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, chinesisch glücklich zu sein. Eigentlich denke ich, dass es sich nicht sehr anders anfühlen kann als mein Glücklichsein. Doch dann wird mir bewusst, wie sehr bei mir die Freiheit der Gedanken, der Meinungen, des Glaubens und der Interessen dazu gehören. Ich darf das hier posten, mein Lieblingsjazzradio aus New Orleans hören, mit meinem Freund über die Regierung lästern und im Innersten daran glauben, dass Gott meinen Namen kennt und mein unverwechselbares Angesicht sucht. All das trägt dazu bei, dass ich mich glücklich fühle. Und ich bin fest davon überzeugt, dass die Freiheiten allen zustehen. 

Ich habe von der Olympia-Eröffnungsfeier nur wenige Bilder gesehen. Eines haben sie bewirkt: Dass ich in diesen Tagen oft an die chinesischen Frauen, Männer und Kinder denke. Ich würde ihnen mein Glück wünschen. Und hoffe, dass sie chinesisch glücklich sind - auch wenn ich nicht weiss, wie sich das anfühlt. 

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

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