Unmaskiert

Tag eins einer neuen Zeit. Gestern hob der Bundesrat fast alles Corona-Massnahmen auf. Gültig ab heute. Man muss schon Bus fahren, wie ich es vormittags tat, um die Maskenrestbestände noch aufbrauchen zu können.

Paul Maar ist für mich mit einem der ersten Kinderlager verbunden, das ich als Gemeindepfarrer leitete. Zur Gute Nacht-Runde versammelten sich alle im Aufenthaltsraum unter dem Dach. Die Kinder bereits im Pyjama mit geputzten Zähnen. Nach dem Singen gabs die Fortsetzungsgeschichte. Daniela hatte die Geschichte vom Sams mitgebracht. Sie hatte sich bei ihren eigenen Kindern bewährt. Das Lager hörte atemlos zu und die Kleineren suchten sich eine Schulter zum Anlehnen.

,Roman meiner Kindheit' heissen Paul Maars Erinnerungen. Er erzählt von Mutter und Vater und Grosseltern und Schule, von Kinderstreichen und Kinderdramen im Kriegs- und Nachkriegsdeutschland. Es liest sich wie Maars ,Sams'. Leicht und lebensfroh. Maar erzählt seine Kindheit wie ein Kind seine Kindheit erzählt. Was er damals nicht in einem geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext wahrnahm, will er auch heute nicht in diesen stellen. Ich hätte gerne mehr als Anekdoten. Diese unterhalten, aber nähren nicht. 

Da taucht unvermittelt Nel auf. Wer ist Nel? Maar erzählt, wie Nel an ihrem Schreibtisch mit einfachen Sätzen Wörter einzufangen versucht. ,Einer soll her, der die Identität fassen kann.' Über den Satz ,Der Teppich hat eine Berufung für halten und liegen,' muss ich besonders schmunzeln. Ich denke daran, welche Bedeutung die ,Berufung' in gewissen Kreisen hat. Es dämmert mir, dass Nel Maars Ehefrau ist und er hier nicht aus der Kindheit, sondern aus der unmittelbaren Gegenwart schreibt. Nel hat eine fortgeschrittene Demenz. Plötzlich hat er mich ganz.

Maar erzählt, wie Nel ,heute morgen' um fünf mit Wintermantel und Stiefeln neben dem Bett stand und sagte: ,Tschüss. Muss los ins Theater. Zur Probe.' Er berichtet, wie er zur Beginn ihrer Krankheit, bei solchen Gelegenheiten lauter Fragen gestellt hatte. Welches Theater? Weshalb? Und sie dabei immer traurig geworden war. Er fühlte sich als ,Vertreter der Realität, als Schutzherr der Wahrheit'. 

Da hatte sie einmal einen Satz gesagt, der für ihn wie eine Offenbarung gewesen war: ,Du willst mich immer verbessern.' 

Ich war bestürzt und den Tränen nah. Ich wusste, was sie ausdrücken wollte. Du bestehst immer darauf, dass du recht hast und ich unrecht! Und ich begriff, dass es nicht nur meine Wahrheit gab, sondern auch ihre. Wenn ich eine liebevolle Verbindung beibehalten wollte, musste ich mich darauf einlassen. (Paul Maar, Wie alles kam, Fischer TB, S. 203)

Ich finde die Rede von ,meiner Wahrheit' und ,deiner Wahrheit' nicht unproblematisch. Die Reduktion der Wirklichkeit auf narzisstische Subjektblasen tut manchmal so, als gäbe es keine grössere Einheiten, auf die man sich verständigen könnte. ,Ich fühle es so und damit ist es wahr.' Eine Sendung, die ich kürzlich hörte, verband Wahrheit dagegen mit maximaler Bezogenheit (vgl. das Zitationssystem bei wissenschaftlichen Arbeiten) und meinte damit, dass unsere Einsichten und Erfahrungen möglichst viele unabhängige Zeuginnen und Zeugen bräuchten, um Relevanz zu gewinnen. 

Wenn das Allerwichtigste jedoch ist, eine ,liebevolle Verbindung' beizubehalten, wie es Maar bei Nel festhält, dann ist es wohl nicht zu umgehen, die Wahrheit durch 'mein' und ,dein' manchmal zu relativieren. Es geht nicht darum, objektive Tatbestände festzuhalten. Es geht darum, gewachsene Beziehungsschätze zu bewahren. Dafür spielt man auch mal ein Stück mit, bei dem man nicht selbst Regie führt. (In der Demezpflege spricht man von Validieren.

Während der Pandemie wurde manche ,liebevolle Verbindung' dem Streit um die richtigen Massnahmen und um die eigene Wahrheit geopfert. Neutral bleiben war nicht möglich. Man musste sich zu dem, was vorgegeben wurde, verhalten. Nun, da die Massnahmen wegfallen, tut sich dazwischen wieder ein Feld auf, auf dem man sich neu begegnen kann. Ich freue mich darauf, es zu nutzen. Man kann über die Grosskinder sprechen, die Fasnacht, den FCB oder wie ich gerade über die aktuelle Lektüre. Egal. Und dann kann man miteinander essen, trinken oder Gottesdienst feiern. Die Frage nach dem Impfstatus stellt sich zu keiner Zeit. Und niemand muss den anderen oder die andere irgendwie verbessern. Unmaskiert ist die Bahn wieder frei für ungestörtes freundliches Lächeln.

Vor einem Jahr, als Nel noch ganze Sätze formulieren konnte, sagte sie: ,Wenn ich deine Hand halte, fühle ich mich sicher.' Seitdem schlafen wir Hand in Hand ein. Dabei gewinnt nicht nur sie, auch mir gibt es viel. (das., S. 204)

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

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