brüllender Löwe

Unser schiefes Verhältnis zur Natur zeigt sich auch in der Sprache. Wir sagen ,menschlich' und meinen freundlich und rücksichtsvoll. Wir sagen ,tierisch' und meinen wild und brutal. 

Der Krieg in der Ukraine brennt es auch dem naiven Teil in mir gewaltsam auf die Haut: Des Menschen Bestie ist nicht das Tier, sondern der Mensch selbst. Der Mensch ist gleichzeitig Mensch und Unmensch. Doch sprachlich sagt sich das halt oft besser mit einem Tiervergleich: homo homini lupus - Der Mensch ist des Menschen Wolf (Thomas Hobbes).

Noch näher als der Wolf lag der Welt der Bibel der Löwe. Sein Umherstreifen und Brüllen war den Menschen in Palästina ein vertrauter Schrecken. Im 1. Petrusbrief muss der Löwe deshalb sogar für den Teufel selbst herhalten. 

Bewahrt einen klaren Kopf, seid wachsam!
Euer Feind, der Teufel
,
streift wie ein brüllender Löwe umher.
Er sucht jemanden, den er verschlingen kann. 
(1. Petrus 5, 8)

Gerne habe ich bisher einen Bogen um diesen Satz gemacht. Weniger des Löwen als des Teufels wegen. Das Böse in einer Person (Teufel) festzumachen, wird meiner Wahrnehmung des Bösen in dieser Welt nicht gerecht. Die Figur des Teufels dient den Okkultisten unter den Religiösen in der Regel dazu, sich das Böse vom Leib zu halten, indem es bei anderen festgemacht wird. Weniger wird es dadurch nicht. Und dem Denken hilft es nicht weiter.

Nun allerdings zwingt die Totalität dieses Krieges dazu, auch über das Böse neu nachzudenken. Und der Gedanke, dieses auch an einer Person besonders festzumachen, liegt nicht mehr besonders fern. Dabei ist auch dieser teuflische Machthaber keine metaphysische Gestalt, sondern ein Mensch. Doch mit welch todbringenden Mitteln!

Erzählen alte Sagen (Teufelsbrücke) und Klassiker der Weltliteratur (Goethe, Faust) davon, dass Menschen ihre Seele dem Teufel verschrieben hätten und mit ihm in einem Bund steckten, so liefert die Weltbühne dieser Rede heute plötzlich ein Gesicht. Mit einem Mal ist es nicht mehr so abwegig, dass nicht nur dass Allgemeine stimmt: in jedem Menschen steckt auch Böses. Sondern auch das Besondere: In manchen Menschen läuft das Böse zur Höchstform auf, weil ihm durch sie Macht und Möglichkeiten in schrecklichen Dimensionen zur Verfügung gestellt werden. 

Das Brüllen der Granaten, Bomben und Raketen, das durch die Tagesschau sogar in unsere Wohnzimmer und Herzensstuben dringt, lässt das Bild des umherstreifenden Löwen plötzlich ganz plastisch werden. Und seine Suche nach 'jemanden, den er verschlingen kann' ist angesichts der wahllos ausgebombten Wohnhäuser und Spitäler das schreckliche Gegenteil einer rhetorischen Figur.

Steckt in den alten Vorstellungen vom Teufel also doch mehr als der Versuch, das dunkle Unfassbare irgendwie zu fassen? Die teuflische Fratze, die ein Tyrann nun zeigt, zwingt in meinen Augen noch nicht dazu, das Böse neu zu denken. (Allenfalls muss der Mensch neu gedacht werden, wenn man davon ausging, dass er doch im Grunde gut ist.) Angesichts der Todesmacht, die von einer Person ausgehen kann, ist allerdings der Gedanke zwingend, dass alles gestärkt werden muss, was Macht breit verteilt und von einer einzelnen Person fernhält. Nicht, dass der Mensch ein Problem ist, ist neu. Sondern dass sich in einem Menschen soviel Macht konzentriert.

Es ist noch nicht lange her und man fragte sich bang, ob in Washington genügend checks and balances in System eingebaut seien, um das Schlimmste zu verhindern. Beim Sturm aufs Kapitol schrammte man haarscharf an einer Katastrophe vorbei. Und die amerikanischen Institutionen kämpfen immer noch darum, den Beweis ihrer Stabilität und Funktionsfähigkeit zu erbringen. 

Zum schwarzen Herz des Schreckens aus Moskau gehört, dass wir nun erkennen, in welchem furchterregenden Mass das grösste Land der Erde, eine Grossmacht mit Nukelarwaffen, den Launen, Träumen und Befürchtungen eines einzigen Machthabers ausgeliefert worden ist, der in seiner selbstgeschaffenen Isolation immer diabolischere Züge entwickelt.
,Wer kann ihn noch stoppen?' fragen alle Talkshows, nachdem man über dieselben Nachrichtenkanäle über Jahre verfolgen konnte, wie systematisch alles gestoppt und unterdrückt wurde, was sich dieser Machtkonzentration entgegenstellte: offene Wahlen, freie Medien, unabhängige Gerichte, kritische Geschichtsforschung; die aller menschlicher und staatlicher Ordnung zugrunde liegenden Menschen- und Völkerrrechte. 

Angesichts des gegenwärtigen Brüllens sehnt man sich geradezu nach Tiergeräuschen. Sogar ein brüllender Löwe würde wenigstens den Trost enthalten, dass sein Hunger nicht ins Masslose wächst, sondern sich mit einer Ziege stillen lässt (und den Trost, dass es noch Löwen gibt!).
Als Kind gehörte die Vorstellung, im Rachen eines Lösen zu stecken, zu meinen Alptraumrepertoire. Heute würde ich mir wünschen, es wären mir keine teuflischeren Rachen bekannt. Doch nicht nur mir, auch den ukrainischen Kindern ist dieses ,Idyll' nicht mehr vergönnt.

Wir sind mitten in der Passionzeit. Bei seinem Leiden (Passion) hat Jesus den 22. Psalm gebetet. Am berühmtesten ist der Anfang 'Mein Gott, warum hast du mich verlassen?' (V. 2). Der Alptraum vom brüllenden Löwen ist schon dem Psalm bekannt. Anzunehmen, dass Jesus das auch gebetet hat.

Rette mich aus dem Rachen des Löwen (V. 22)

Hilde Domin hat die Zeile auf lateinisch zum Herz eines ihrer Gedichte gemacht.
Man kann dabei an die mutigen russischen Dissidenten denken, die trotz aller Repression nicht schweigen wollen. Oder an die eigenen Stossgebete für den Frieden.

Dies ist unsere Freiheit
die richtigen Namen nennend
furchtlos
mit der kleinen Stimme

einander rufend
mit der kleinen Stimme
das Verschlingende beim Namen nennen
mit nichts als unserm Atem

salva nos ex ore leonis
den Rachen offen halten
in dem zu wohnen
nicht unsere Wahl ist.

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch



Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

sich selbst zum Narren machen

das echte Schneewittchen

Abschaffung des Glaubens