Liebhaberei Religion

Religion ist eine Nebensache. Im durchgeplanten und zweckorientierten Alltag der meisten Menschen spielt sie keine Rolle. Den anderen wird sie als Liebhaberei zugestanden - so wie anderen das Aquarium mit den Schleierfischen, das Porzellanmalen, das Lesen von Gedichten oder die Skitour. 

Als Theologe reagiere ich darauf wechselweise mit Trotz oder Resignation. Grundsätzlich anders empfinde ich es allerdings in diesen Wochen. Angesichts des Krieges in der Ukraine - nach der Pandemie Stufe zwei eines massiven Verlustes von Sicherheit und Vertrauen in unsere selbstgeschaffenen Ordnungen  - erstaunt mich, wie viele ein 'Friedensgebet' wichtig finden, selbst wenn sie es nicht besuchen.

Von Navid Kermani habe ich schon manches gelesen. Als deutsch-iranischer Intellektueller muslimischen Glaubens gehört er zu den Autoren, für Religion stets eine Bedeutung behalten hat. Nun hat er ein Jugendbuch über Religion geschrieben - als Gespräch mit seine Tochter. In der DER ZEIT lese ich dazu eine Interview - und spricht mir aus dem Herzen.

ZEIT: Sie schreiben ein Jugendbuch über die Bedeutung der Religion. Warum?

KERMANI: Eben jetzt muss man doch von den Religionen erzählen! Stellen wir uns vor, sie würden verschwinden - was wird aus den existentiellen und ethischen Fragen des Menschen? Nach Sterben und Tod? Nach der Würde des Menschen? Was bedeutet es, im Einklang mit der Natur und dem All zu leben? (..) Man kann die Antworten der Religion für falsch halten, aber ihre Fragen bleiben essenziell, unabhängig davon, ob die religiösen Institutionen erstarren, sich verändern oder verschwinden.

ZEIT: Haben es dei Religionen in einer modernen, aufgeklärten Gesellschaft besonders schwer?

KERMANI: Die Verfallserscheinungen und Fundamentalisierungen der Religionen haben durchaus mit der modernen Gesellschaft zu tun. Der Mensch denkt die Welt vor allem von sich aus, von seinem eigenen Selbstbewusstsein. Er vergisst leicht, dass er mit jedem Atemzug abhängig ist von einer höheren Macht. (...) In unserer hochtechnologiserten Welt mit Heizung und Lebensversicherung spüren wir diese Abhängigkeit nicht mehr so umfassend. Wir glauben, alles beherrschen zu können. Und dann kommt ein unbekanntes Virus (oder ein barbarischer Krieg; PR), und ganze Gesellschaften verlieren die Fassung, weil sie von einem auf den anderen Tag merken, sie haben überhaupt nichts in der Hand.

ZEIT: Die Religionen fordern Verzicht und Bescheidenheit. Unsere Lebensweise aber ist  auf Wachstum ausgerichtet, auf Immer-mehr...

KERMANI: Und dann fordern uns die Religionen auch noch auf, jeden siebten Tag de Arbeit ruhen zu lassen. Oder, wie im Islam, fünfmal am Tag ein Gebet zu sprechen. Wie unpassend! In einer durchrationalisierten Welt scheinen religiöse Gedankengebäude völlig unzweckmässig zu sein. Aber Religionen versetzen den Menschen in ein Verhältnis zum Leben insgesamt - zur Natur, zum Weltall, zu Gott. Und sie setzen den Menschen ebenso in ein Verhältnis zu einer anderen Zeit, zur Zeit an sich, vpn Anfang bis Ende und über Anfang und Ende hinaus. Das Hier und Jetzt ist so klein!

ZEIT: Wieso brauche ich dafür Gott? Ich kann doch einfach so nachdenken und über die Welt staunen?

KERMANI: Das Wort ,Gott' brauchen Sie dafür nicht, in der Mystik verschwindet Gott sogar ganz. Mir kommt es darauf an, dass Religion eine Beziehung ist: Eltern, die ein Kind bekommen, sind unweigerlich dankbar, und zwar nicht nur den Ärzten, sondern ... ja, wem? Dankbarkeit hat einen Adressaten, und diesen Adressaten, so unbestimmt er notwendigerweise ist,bezeichnen Religionen als Gott. Bei einer Ungerechtigkeit, etwa einer Krankheit, für die man keinen Menschen verantwortlich machen kann, oder einer Naturkatastrophe, klagen wir, wir klagen instinktiv an - aber wen? Gott ist der Name dessen, den wir anklagen.

ZEIT: Im Glauben bin ich nie allein?

KERMANI: Ja, im Idealfall lebe ich in einer Beziehung mit dem Dasein an sich, mit dem All - aber dieses Dasein wird mit Gott ganz konkret, ich kann mit ihm sprechen, ich kann es preisen, ich kann es auch anklagen. Ich bn nicht allein, sondern der kleinste Teil in eines grossen Zusammenhangs.

(DIE ZEIT, 17.3.2022, S. 59)

Die Beklemmung des Krieges legt sich vor die Sonne wie der Saharastaub der vergangenen Woche.
Heute durfte ich ein Kind taufen.
Die Liebhaberei ,Glauben' erweist sich mir aktuell als alles andere als nebensächlich.
Ich wüsste nicht, wer ich ohne sie wäre.

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch


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