Stundenhotel für das andere

Bereits zwei Wochen Krieg in der Ukraine. Wir stehen da, zwei Wortarbeiter, mitten in einer Kirche, und finden keine Worte.
Das Schweigen zieht sich.
Schliesslich sagt einer doch etwas.
Er sagt: ,Da fehlen einem die Worte.'

Ich weiss nicht mehr, wer mir Adam Zagajewski empfohlen hat. Möglicherweise las ich einen Nachuf. Er starb genau vor einem Jahr, im März 2021.
Ich hatte seinen Namen schon gehört, mehr nicht. Der polnische Dichter und Essayist ging den Weg vieler Intellektueller, die noch hinter dem Eisernen Vorhang geboren worden waren: Ins Exil - über Berlin und Paris in die USA. Die letzten Jahre lebte und lehrte er in Chicago.
Ich notierte mir damals seinen Namen und lieh mir aus der Bibliothek einen Band mit Essays aus, noch bevor Putins Armee die Ukraine überfiel.
Nun nehme ich ihn oft zur Hand. Er ist mir Trost. Im Trommelfeuer der Informationen über Krieg und Leid, Gewalt und Flucht verschafft er mir Gedankenluft. Nicht nur, weil er eine Fülle von Spuren an die Ostränder Europas legt. (Welcher Reichtum entging und entgeht uns da!) Sondern weil er unermüdlich Worte für das Unausprechliche sucht, für dieses Reich zwischen Worten und Schweigen. Es ist für ihn eine poetische Suche. Doch ist sie nicht von der spirituellen zu trennen. Er selbst trennt sie nicht. 

Vorgestern las ich den Essay 'Inspiration und Hindernis'. Er sprach mir aus dem Herzen. Nein besser: Er sprach mir ins Herz. Hier die erste Seite.

Inspiration und Hindernis – hier steckt der Anfang der Poesie, im Zusammenstoß und im Kampf zwischen der seltsamen, von innen kommenden Kraft, über die wir keine Kontrolle haben, und unseren Lebensumständen, die wir nicht einfach wegschieben und denen wir uns nicht widersetzen können – wir können nur auf sie reagieren; wir können nur versuchen, die stummen, beharrlichen Ereignisse mit unserer eigenen Musik zu sättigen. 
An die Existenz der Hindernisse glauben wir ohne weiteres, nichts ist einfacher als das: Jeder Tag liefert ns überzeugende Beweise dafür, sowhol im praktischen Leben wie auch auf theoretischen Gebieten. Doch können wir auch akzeptieren, dass es hier und da bisweilen Momente der Eingebung gibt? Zur Zeit überwiegt eine skeptische Einstellung, die Inspiration wird als eines der Relikte griechischer oder biblischer Erzählungen, ein Überbleibsel des Aberglaubens gesehen. Viele der nüchternen zeitgenössischen Denker, die geneigt sind, die wichtigsten Voraussetzungen des Zeitalters der Ironie zu inetrnalisieren, verwerfen schon den Begriff der Muse, einen bestimmten Geisteszustand, und negieren die Möglichkeit, eine Stimme unbekannter Herkunft zu hören. Erlaubt sind Gespräche über Handwerk, Technik, intertextuelle Bezüge und gesellschaftliche Implikationen des Kunstwerks; über das Wort ,Enthusiasmus' und seine theologischen Konnotationen dagegen darf man nicht sprechen. Das gehört sich nicht, das ist peinlich. 
Die Inspiration - wo ist sie zu Hause, wo wohnt sie? Sie scheint keine feste Adresse zu haben, wir sind für sie nur eine Art Hotel - ein Stundenhotel. Wenn wir sie jedoch suchen wollen, dann gewiss in einer Umgebung, wo das Leben für einige Zeit seinen Lauf verlangsamt und ruhig wird wie ein Fluss in der Ebene. 
(Adam Zagajewski, Poesie für Anfänger, Essays, Hanser/München 2021, S.128)

Die Kirche hat in der (post)säkularen Welt längst ihre Selbstverständlichkeit verloren. Für mich als Pfarrer ist das nicht nur eine ständige intellektuelle, sondern oft auch eine existentielle Herausforderung.
Nun, in der Allgegenwart dieses Krieges in Europa, rückt ihre Relevanz mit einem Mal wieder näher. Unsere Zeit braucht Zwischenräume. Räume, wo das Schweigen, das Fragen, das Aushalten, das nicht reden, sich nicht festlegen, sich nicht entscheiden Müssen einen Ort hat. Wo das Mitleiden und Solidarisch-sein nicht gleich in Parolen münden muss, auch nicht in Bekenntnisse. Sondern, wenn schon, in Lieder und Gebete, in denen sich ebenso Zweifel wie Glauben, ebenso Zagen wie Hoffen ausdrückt. Halten nicht - im besten Fall! - unsere Kirchen in unserer Stadt diese Räume offen? Und unsere Formen des zusammen Kommens und vor Gott kommens?

Ich fürchte, dass wir als Kirche den Menschen zu oft im Gestus derer entgegen treten, die es besser wissen (,die feste Adresse der Inspiration'). Wir präsentieren unseren Glauben als Weisheit von Eingeweihten. Nichteingeweihte finden wenig Resonanz. Damit erhöhen wir nur die Schwellen, die wir doch eigentlich senken möchten. Dabei ist Glaube immer ebenso Zweifel und Nichtwissen. (An anderer stelle zitiert Zagajewski Blaise Pascal: ,Verneinen, glauben und zweifeln ist für den Menschen, was für das Pferd das Laufen ist.')

Stattdessen wäre vielleicht nur das unsere Aufgabe: Den Zwischenraum offenhalten - für Menschen und ihre Gefühle, Gedanken und Gebete. Wir wissen es nicht besser. Wir weigern uns nur, um Gottes Willen, keine Hoffnung mehr zu haben. Wir arbeiten an 'einer Umgebung, wo das Leben für einige Zeit seinen Lauf verlangsamt und ruhig wird wie ein Fluss in der Ebene.'

Unser schweigsames Gespräch in der Kirche wurde durch andere Besucher unterbrochen. Ich hätte meinem Gegenüber gerne noch was von dem erzählt, was Zagajewski mir gesagt hatte.

(In der Offenen Kirche Elisabethen findet nun jede Woche ein Friedensgebet statt:
Dienstag, 18:30.)

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

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