wenn Bilder reden

Vadim Ghirdă, AP / The Guardian
Die Legende sagt, Feldmarschall Grigori Alexandrowitsch Potjomkin habe ganze Dörfer als Kulissen aufgestellt und mit Leuten gefüllt, um bei Zarin Katharina der Grossen den Eindruck zu erwecken, dass ihr Reich besiedelt werde und der Wohlstand blühe. Sie fuhr mit der Bahn durch die Landschaft und die Leute jubelten ihr zu. Alles nur Fake.

Täglich neue Bilder. Zerstörte Panzer. Ausgebrannte Häuser. Überfüllte Bahnhöfe. Verzweifelte Mütter. Betende Soldaten. Trümmerübersäte Strassen. Und seit gestern auch zugedeckte, auf der Strasse liegende tote Zivilisten.
Und allabendlich neue Talkrunden. Es muss mehr geschehen, sagt die eine Seite. Es geschieht alles Mögliche, sagt die andere. Man verweist auf die Bilder. Reden sie nicht Klartext? Also kündigt die Politik täglich neue an, auch wenn sie die alten sind (mehr Sanktionen). 

Was sagen die Bilder? Sagen sie etwas Neues, anderes? Enthalten sie mehr Informationen als Berichte? Oder einfach nur mehr Wucht? Ich weiss, dass Krieg mörderisch ist. Und schmutzig. Ich weiss, dass es im Verbrechen Krieg noch besondere Verbrechen gibt, die man Kriegsverbrechen nennt. Und ich weiss, dass es ,saubere' oder ,korrekte' Kriege nur in der Kriegspropaganda gibt. (Auch wenn man vom Irakkrieg lauter 'saubere' Bilder sah, war er das ganz und gar nicht...). Was sehe ich also mehr, wenn ich Bilder sehe? Oder spüre ich vor allem mehr und erhalte Emotionenfutter?

Bilder kommen und gehen. Das Bild, das mich vergangene Woche am unmittelbarsten berührte, war am nächsten Tag bereits wieder weg. Ich hatte einen Screenshot gemacht. Die Bilder des Fotografen Vadim Ghirdă fielen mir ins Auge, weil sie Gegenstände zeigen, die Menschen im Krieg bei sich tragen, und die nun im Dreck liegen. Eine Soldatenmütze. Eine Gasmaske. Oder eben ein Buch.
Diese Bilder illustrieren nicht Krieg, sondern wie dieser die Menschlichkeit in den Dreck wirft. Sie zwingen mich, den Menschen, der dazu gehörte, vorzustellen. Lebt er noch? Woher kam er? Wusste er, was er tut? Wollte er das? Die Bilder bedienen nicht meine Sensationslust und Emotionalitätsgier, sie wecken meine Vorstellungskraft. Die Hauptsache zeigen sie nicht. Die schreckliche Hauptsache kann man eigentlich gar nicht zeigen. Die Hauptsache ist das Leben. Krieg beschmutzt das Leben und tritt es mit Füssen. 

Die Legende zum Bild sagt, dass es sich bei den im Dreck liegenden Seiten um ein russisches Buch handle. Sie weiss sogar den Titel: ,Aufstieg und Fall des Römischen Reiches' von Edward Gibbon (1776-1789). Gibbons berühmte These lautete: Die wahre Ursache des Untergangs des einst blühenden Roms sei die Dekadenz des Westen gewesen. Seither stelle mir einen jungen russischen Soldaten beim Lesen dieses dicken Wälzers vor, mitten im Krieg im fremden Land. Was ist aus ihm geworden? Wie kann man lesen in Kriegsgefahr? Warum dieses Buch?

Die neue russiche Legende sagt, die ukrainische Regierung habe ganze Dörfer zerstört und mit Toten gefüllt, um in der Weltöffentlichkeit den Eindruck von Barbarei zu erwecken. Alles nur Fake. Potemkinsche Dörfer - diesmal umgekehrt.

Was sagen Bilder? Was können sie im Zeitalter des Bildes, das gleichzeitig auch eines der Bildmanupulation ist, noch sagen? In einer Woche stellt unser Jahr uns wieder das Bild des Mannes am Kreuz vor Augen. Seine Nicht-Eindeutigkeit war schon Paulus klar. Für die einen ist es Torheit. Für die anderen Weisheit. Das Bild nimmt uns die Aufgabe, selber nachdenken, entscheiden und handeln zu müssen, nicht ab. Es sagt nur: Ecce homo. Und wir sehen und alles ist bei uns.

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch


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