der lichtlosen Welt entrissen

Ostersonntag.
Hinter dem Haus sitzen und von der eigenen Wohnhöhle wegschauen.
Das Laub drängt ins Licht, abertausend kleine Origamiwunder.
Der Bus brummt durch durch die übermütige Vogelgeräuschkulisse.

Und mitten drin er.
Wir hatten ihn tot genannt, noch vor wenigen Wochen.
Seine dürren Äste piksen in den Himmel, mit kleinen Zweigwiderhaken, als wollte er sich oben festhalten.
Grünes Moos und weisse Flechten bedecken Stamm und Äste, dazwischen kahle Stellen, von der Zeit geschält,
Der Specht hämmert seine Löcher in ihn. Kleine Grabhöhlen im toten Holz. Baumfriedhof.
Er hält dagegen: Käfer und Würmer. Lebenskraft.
Das junge Eichhörnchen braucht ihn als Sprungbrett zum Nussbaum. Es springt schon wie ein Grosses. 

Noch nicht lange her, da begannen vier Äste unter der Frühlingssonne zu schäumen. Weisse Blüten, als zöge der Alte nochmals sein Erstkommunionskleid an.
Nun haben grüne Blätter ihre Schirme darüber aufgespannt. Und ich bin überzeugt, im Sommer wird er weieder Früchte bringen. Kleine, saure Kirchen, die im Mund explodieren.
Und harte Steine, in denen künftige Bäume nur darauf warten, Wurzeln zu schlagen und in die Zukunft zu wachsen.

Die Kinder, die im Haus wohnen, suchen unter dem Baum ihr Glück. Sie jauchzen, wenn's für sie Ostern wird: 'Ich hab's mein Nest gefunden!' In der Kirche jauchzen wir: ,Christus ist auferstanden. Halleluja. Er ist wahrhaft auferstanden.' Und ich spüre, wie zwischen dem Jauchzen die Stille zu leuchten beginnt. Sie heitert sich mit Frischluft auf, Frischlicht. Und einen Moment lässt sie sogar hoffen, dass sich auch die Stille zwischen dem Lärm von Krieg und Zerstörung wieder verändert.

In der Bergpredigt lehrt Jesus denen, die mit ihm unterwegs sind, seine Grundsprache des Vertrauens, das Gebet (Matthäus 6). Statt vieler Worte bringt er ihnen das schlichte Alphabet des Unservaters bei. Die Ausrichtung auf Gott. Die Konzentration auf das Wesentlichste. Unser täglich Brot gib uns heute. Vergib uns unsere Schuld. Erlöse uns vom Bösen. Darüber hinaus schickt er die vollen Herzen, stets beseelt, von dem überzufliesssen, was sie erfreut und bedrückt, ins stille Kämmerlein. Nicht die Worte legen den Teppich zum Frieden, sondern die schlichte, schweigende Anwesenheit vor dem, der über allem ist. Auf dem langen Spaziergang mit den Freunden gibt es der Moment, wo alles gesagt ist. Die Stille, die sich ausbreitet, ist nicht mehr die Verlegenheit der Entfremdung: Wo beginnen? Wie sich finden? Wie sagen, was einen bewegt?, sondern der Gleichklang des Miteinanders, Vertrauensharmonie. 

Philippe Jacottet starb vor gut einem Jahr im Alter von 95 Jahren. Der Lyriker war einer der Stillen in unserem Land, und damit einer der am meisten Gehörten. Mit dem Alter wurde Jacottet immer stiller. Und die Stille zwischen seinen wenigen Worten wurde immer sprechender. ,Es ist wahr:' schrieb er einmal. ,Je weiter die Jahre voranschreiten, desto mehr erschreckt mich das Wuchern der Kommentare und des Geredes allenthalben wie auch das der Bilder, und das verstärkt noch, über das Schreiben hinaus, meinen Wunsch nach Stille.'

Das Osterfest ist das Fest, das am wenigsten mit Worten zu fassen ist. Es erzählt vom Unerhörten und Unerzählbaren. Die Ostergeschichten der Bibel erzählen vor allem vom leeren Grab und von der Fassungslosigkeit, die dieser Tag einer ganz anderen, neuen Welt, in denen hinterliess, die davon Zeuginnen und Zeugen hinterliess. Das Wunder von Ostern wirft einen grossen Schatten aus reinem Licht auf das Leben der in der Vergänglichkeit gefanganen und vom Tod gezeichneten Erdlinge. Und hinterlässt eine leuchtende Stille, die den Mund verstummen und das Herz jubeln lässt - und die Füsse in Bewegung bringt. ,Geht, ihr werdet dem begegnen, der vorausgegangen ist.' (Markus 16, 7)

Der alte Kirschbaum hinter dem Haus ist mir heute am Ostersonntag ein stiller Zeuge dafür. Und Philippe Jacottet gibt seinem leisen Aufersthungswunder ein paar karge Worte.

Bäume
Geduldig
Entreißen sie sich der wüsten,
lichtlosen Welt der Knochen, der Samen
mit jedem Jahr
durchzitterter von Luft zu sein
 
(Philippe Jacottet, 1964)

Kommentare

  1. Christian Vontobel27. April 2022 um 01:16

    "Auf dem langen Spaziergang mit den Freunden ..." unterwegs zu sein, das ist ein schönes Bild für die neuen Wege im Frühling, mit viel Sonnenlicht, Blütenpracht und schweigendem Staunen.

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