geballte Fäustchen im dichten Gras

Viele schwere Gedanken in den letzten Wochen. Ich mache mir keinen Vorwurf. Die Wolken, die heute ihre Decke vor die Sonne ziehen, erinnern daran, dass die vergangenen lichtvollen Tage nicht für die Weltgemütslage standen.
Wohl aber für die Osterwoche. Das Fest kam in diesem Jahr gerade recht. (Es kommt immer irgendwie recht!). Seine verrückte Botschaft, die dem Tod eine lange Nase dreht, tat mir diesmal anders besonders gut. Ich genoss das Fest tiefer (höher?) und stiller als sonst. Sein Übermut blies Frischluft in mein Seelendunkel und in meine Gedanken drang seine Heiterkeit wie das Sonnelicht durch die Storenlamellen. 

Ich erinnere mich an das Buch, das ich mal im Brocki mitgehen liess, und das Osterfest in einer waadtländer Gemeinde beschreibt. Jacques Chessex (1934 - 2009) gehört (wie Philippe Jacottet, vgl. letzten Beitrag) zu den grossen Schrifstellern der Schweiz, die diesseits des Röstigrabens viel zu wenig gelesen werden. In ,Leben und Sterben im Waadtland' (1972) stellt er kleine Erzählungen zu einem Bilderbuch eines Dorfes in seiner Heimat zusammen, in dem Landleben, Naturkraft, katholische Kirche und Dorfbeiz liebevoll lebenslustig miteinander verschmelzen. Den Reigen eröffnet das Osterfest unter der Überschrift ,Frühling aus dem Schoss der Erde'. Ich tauche ein, schmunzle und lasse es mit gut tun. Der Anfang geht so:

Orangenfarbenes Dämmerlicht hebt sich mit heiserem Hahnruf über die Felder und über die feiertäglichen Höfe, und Schlag neun beginnen im Turme die massigen Glocken aus Bronze zu tanzen: Kommt her, kommt her, lobt den Herrn und die selige Musse des Sonntags! Ein strahlender Morgen, öffnet das Ohr! Was? Musse und Nichtstun? Wer dächte daran! Heute ist Ostern, und alles drängt nach Geburt und ruft aus: Seht dort am Baume das Blatt, es will sich entfalten, hinaus aus der Hülle, grün schreiend, weht wie die klebrige Haut nun dem Druck weicht und zerplatzt; Saft und Kraft, Atem und Blut, Lebensanfang voll Vernunft und Unvernunft, ja, und diese lieblichen Launen des Lüftchens, das über die Hecken hüpft wie eine eilige Nachricht! Aus dem Innern der Erde entspringt der Frühling, mit dem Abendmahlswein, den Blättern, dem Brot und den Blumen, mit den Perlen des Glücks in den Kehlen der Amseln. Vom Himmel ertönt der Gesang der Vögel; doch wie kommt das Licht auf das Land und die Dächer, neu wie ein Wasser, das alle Wände und Mauern wäscht, Ziegel und Sandstein, und auch die Herzen unter den Hemden?

Auftritt Pasteur Amédée, der vom Weg vom Pfarrhaus zur Kirche seine Nachbarinnen und Nachbarn begrüsst, während die Kühe auf der Weide die jungen Triebe von den Apfelbäumen im Pfarrgarten fressen. (,auch so zeigt sich wieder die enge Durchmischung von Geist und Erde. (...) Gelobt sei das Passwort zum Paradies.')

Frohe Ostern, ihr verrunzelten Alten! Spürt ihr das zärtliche Streicheln der Luft? Fohe Ostern, du altes Torgewölbe (...), frohe Ostern, ihr Quadersäulen (...), frohe Ostern, du Chorgang (...) und ihr Treppentritte im Turm, ausgehöhlt und abgefressen von scheuernden Schuhnägeln! In den Augen der Ewigkeit seid ihr vergänglich wie eine Scheibe Käse, die als ein einziger Bissen gefasst und verschluckt wird. Doch ihr besteht seit tausend Jahren. Horcht nun: Der Glöckner läutet mit aller Kraft. Holla, lobet den Ewigen in der Höh!
Ein wunderliches Fest, mit jener Wolkenbank, die hinter den Scheunen aufschwillt. Die Veilchen gleichen geballten Fäustchen im dichten Gras der Böschung.

Die bleischweren und die heiterhellen Gedanken schliessen sich nicht aus. Sie existieren nebeneinander wie Karfreitags- und Osterrealität. Die ersten sorgen zurzeit für sich selbst. Für die österlichen muss man ab und zu selber gut Sorge tragen.

(Quelle: Jacques Chessex, Leben und Sterben im Waadtland, deutsch: Benziger 1974)

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

Kommentare

  1. Was sind das für Zeiten, wo die Freude über Ostern so bleischwer bedrückt wird von den Gedanken über zu viel Unheil in der Welt! Aber darüber sprechen, schreiben und lesen sollen wir und uns vergewissern, dass wir eine gemeinsame Hoffnung haben können und müssen.

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