Wunder, negativ

Udo Rohlfs 2015: Kreuzigung Jesu - Fleisch
Das Kreuz ist eine Barbarei, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In diesem Jahr fällt die Karwoche nicht aus der Zeit heraus. Sie bringt sie auf den Punkt - oder eben: auf das Kreuz. 

Das Kreuz steht für mich in Butscha und an so vielen Orten, die erst jetzt auf meiner Landkarte auftauchen. Und steht da nicht anstelle von Kabul, dem Südsudan, chinesischen Lagern und weissrussischen Gefängnissen, sondern mit ihnen.

Von den Seiten, die der Krieg täglich füllt, ist mir diese Woche ein Interview mit dem Historiker Jörg Baberowski hängen geblieben (s.u.). Er vergleicht den Krieg mit einem negativen Wunder: Er ist das absolut Unerwartete - von der furchtbaren, schrecklichen Seite. Der Krieg durchbricht die herrschende Ordnung und zerstört unsere Bilder der Welt und des Menschen. Eine zutiefst verstörende Erfahrung. Sie lässt sich nicht begreifen, aber auch unmöglich verdrängen.

In der Geschichte meines Glaubens steht dafür die brutale Kreuzigung des Menschenfreunds aus Nazaret. Alle Jahre wieder stehe ich davor und versuche zu verstehen. Ich höre die Erklärungsversuche von früher und finde sie unbefriedigend. Ich spüre den Zug, nach Ostern vorzugreifen, SchoggiEierLeben pur - und empfinde das als Flucht oder Verdrängung. Ich komme nicht an diesem Kreuz vorbei. Dem unerklärlichen Schrecken der Gewalt. Das Kreuz steht da. Ein Wunder aus der Hölle. 

Im Vorwort seines Buches 'Räume der Gewalt' (Frankfurt 2015) schreibt Baberowski:

Wir verleugnen die Gewalt, weil wir uns friedliche Menschen, die nicht böse sind, als Gewalttäter nicht vorstellen können. Und dennoch ist die Gewalt überall, obwohl die Welt nicht nur von bösen Menschen bewohnt ist. Menschen schlagen und töten im Affekt, sie tun es aus Gehorsam, aus Zwang, aus Gewohnheit, aus Freude oder weil sie sich gegen Gewalttäter zur Wehr setzen müssen. Offenbar hängt es nicht von den Absichten und Überzeugungen, sondern von den Möglichkeiten und Situationen ab, ob und wie Menschen Gewalt ausüben. Der Raum der Gewalt ist ein anderer Ort als der Raum des Friedens. Wer ihn betritt, durchschreitet ein fremdes Land, in dem er zu einem Anderen wird. Niemand lässt Gewalt unberührt, niemand kann sich ihrem Zwang entziehen.(Frankfurt 2015, S. 11)

Die römischen Soldaten auf Golgota verrichten das Handwerk, das sie gelernt haben. Sie sind nicht besonders grausam. Sie bieten dem Gekreuzigten Myrrhe zur Betäubung und Essig gegen den Durst an. Sie haben zuhause Mütter, die es sich nicht vorstellen können und wollen, dass sie Menschen auf Holzbalken nageln, aufhängen und mit dem Spiess durchstechen. Und vielleicht wartet eine Freundin auf sie, die sie nur von ihrer zärtlichsten Seite kennt. Würden sie ihre Söhne und Männer noch erkennen? Würden die Mütter und Freundinnen der Gewalttäter von Butscha ihre Söhne und Geliebten noch erkennen? Und doch: Sie sind es.

Es ist nicht schön, an das erinnert zu werden, was man gar nicht wissen will. Das Kreuz steht dafür. Und wirft seinen Schatten tief in die Welt, auf immer neue Orte des Schreckens mit ganz normalen Menschen - als Täter und Opfer. Ausweichen wär schön, doch man würde sich was vormachen. Also feiern wir den Karfreitag als Gedenktag des Schreckens. Und erleben, dass nach dem Wunder der Hölle das andere Wunder von Ostern umso näher rückt und irgendwie plausibler wird. Oder nicht?

Herr Baberowski, Sie haben in einem Artikel in der «FAZ» zur Ukraine geschrieben: «Der Krieg ist wie das Wunder in der Theologie.» Das klingt erst einmal sehr positiv: Gott teilt das Meer, damit es die Israeliten durchschreiten können. Jesus heilt einen Blinden, einen Gelähmten. Warum ist der Krieg ein Wunder?

Ich habe natürlich nicht sagen wollen, dass der Krieg wundervoll sei, sondern dass er wie das Wunder den alltäglichen Lebensvollzug durchbricht. Man glaubt, durch Tradition, Recht und Ordnung von den Furien des Krieges für immer verschont zu sein, und dann bricht plötzlich das Unvorhergesehene über uns herein. Nun kommt zu Bewusstsein, worauf das Leben eigentlich beruht, an welch dünnem Faden es hängt und dass nicht wir es sind, die es in der Hand haben. Wir sind Gäste des Lebens. Wir wissen, dass wir sterben werden, aber wir glauben es nicht. Der Krieg ist die Situation, die uns diese Wahrheit bewusst werden lässt. (NZZ,  4.4.2022)

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

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