Das Leben im Glauben, nicht im Schauen

Unser Leben ist vom Glauben bestimmt, nicht vom Schauen...
Paulus in der Bibel, 1. Korinther 5, 7

Ich ertappe mich dabei, wie ich beim Krieg an die Ukraine oft an die Menschen in Russland denke. Ich erinnere mich, wie ich bereits nach der gewaltsamen Annexion der Krim und des Donbass in einen Streit mit einem Bekannten geriet, der in Moskau lebt und mich hier beim Kaffee traf. Das für mich Ungeheuerliche war für ihn lediglich die friedliche Wiederherstellung eines natürlichen Zustandes. Putin war der starke Führer, der endlich den Mut hatte, das Richtige zu tun. Ich denken oft an ihn und frage mich, wie er wohl die heutigen Ereignisse sieht.

Die Welt ist nie ,die Welt'. Die Welt ist immer nur ,die Welt, wie ich sie sehe.' Und das hat damit zu tun, was ich sehen kann, was mir gezeigt und berichtet - und was ich nicht sehen kann oder mir vorenthalten wird.

Masha Gessen berichtet von den ersten Tagen nach Kriegsausbruch aus Moskau. Auf dem Puschkinplatz werden am ersten Kriegstag hunderte von Demonstranten verhaftet. In den Tagen darauf wird der Platz weiträumig abgesperrt. Die wenigen Prostestierenden werden von den Sicherheitskräften gleich beim U-Bahn-Ausgang im Empfang genommen und in ihre Busse verladen. Die anderen Passanten eilen zügig und unäuffällig vorbei. Sie achten sorgfältig darauf, die stummen Verhaftungsszenen nicht zu beachten. Ihre Nicht-Beachtung sieht ganz routiniert aus, als lebten die Prostestierenden und die Passanten in verschiedenen Welten. Für die einen war Krieg. Für die anderen nicht.

Ich bin nicht in der Ukraine. Die Menschen in Moskau auch nicht. Ich habe keine eigene Anschauung, nur durch Medien vermittelte. Wir leben im Glauben, nicht im Schauen. Die Medien in Russland sind mittlerweile komplett vom Staat kontrolliert. Es gibt keinen ,Krieg', nur eine ,militärische Spezialoperation'. Die Mehrheit der Bevölkerung ist über 45 Jahre alt und kriegt ihr ,Schauen' über TV und Radio. Auch das Internet ist mittlerweile gleichgeschaltet. 

,Das angenehme an einem Krieg, der keiner ist, ist, dass man leicht vorbeischauen kann, ohne den Fernseher abzuschalten,' schreibt Martha Gessen.

Vor Jahren wühlte ich mich durch die beiden dicken Bände von Victor Klemperers Tagebuch 'Die Sprache des Dritten Reiches'. Mit der Genauigkeit eines Linguisten beschreibt er über Jahre, wie die Sprache der Nazis damals die Wahrnehmung der Welt verändert hat. Worüber man nicht mehr reden konnte, darüber wurde nicht nur geschwiegen, es wurde auch nicht mehr gesehen. Den heutigen Medien stehen Möglichkeiten zur Verfügung, von der er noch keine Ahnung hatte.

,1984' von George Orwell hatte ich schon früher gelesen und darin nur ein Echo der Vergangenheit gesehen. Er brauchte nur die Jahrzahl, in dem das Buch erschien, umzudrehen (1948), um die düstere Totalität von Hitlers und Stalins Reichen zu beschreiben. Mit Hilfe von ,Teleschirmen' werden alle durch die ,Gedankenpolizei' überwacht. Die Wirklichkeit wird im ,Ministerium für Wahrheit' festgelegt. Eine Unterabteilung heisst ,Neusprech' und legt fest, was wie gesagt und gedacht werden darf.

Masha Gessen wurde 1967 in Moskau geboren und wanderte 1981 mit ihren Eltern in die USA aus. 1991 kehrte sie als Korrespondentin in ihre Mutterland zurück und berichtete voll Hoffnung von den Anfängen einer liberalen Demokratie. Den Tschetschenienkrieg erlebte sie als Kriegsreporterin und den Aufstieg Putins begleitete sie mit wachsender Sorge. Als bekennende Homosexuelle musste sie schliesslich 2013 selbst den Repressionen in Russland weichen. 2017 gewann sie mit dem Buch: Die Zukunft der Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und wieder verlor den National Book Award und 2019 den Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung. 

Es ist für mich beängstigend, wie Paulus mit seinem Satz vom Glauben und vom Schauen nicht nur die innere Welt meiner Überzeugung beschrieb, die über das, was vor Augen liegt, weit hinaus geht. Unheimlich prophetisch erfasst er damit auch das Wesen aller Menschen, das in unserer visuellen Medienwelt manipuliert und fanatisiert werden kann und wird. Aus dem USA der Trump-Jahre und den Corona-Verschwörungsbubbles ist das auch im Westen noch allzu nah. 

Gleichzeitig bestärkt Paulus mich mit seiner Erkenntnis aber auch in der Überzeugung, dass auch das, was ich heute sehe und mich bedrückt, nicht das letzte Wort hat. Mein Glauben, Hoffen und Lieben lebt gerade davon, dass es nicht durch das bestimmt und begrenzt wird, was ich heute vor Augen habe, sondern greift mutig-übermütig darüber hinaus.
Das zurückliegende Osterfest hat mir dafür wieder neu die inneren Augen geöffnet. Was wir jetzt schauen, sind und bleiben immer nur ,Bruchstücke' (1. Korinther 13, 12). Das, was wir glauben, ist dagegen atemberaubend zuversichtlich.
Das Trotzdem, das Paulus seiner Aussage folgen lässt, sprengt die Kapsel der Gegenwart. Auch, wenn ich an die Menschen in Russland denke...

Unser Leben ist vom Glauben bestimmt, nicht vom Schauen dessen, was kommt.
Trotzdem sind wir voller Zuversicht. 1. Korinther 5, 7

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

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