Die Bürger von Mariupol

Die Nachrichten melden, dass es wieder ein paar Dutzend Frauen, Kinder und alten Menschen gelungen ist, dem seit Wochen belagerten und in Trümmer geschossenen Asow-Stahlwerk in Mariupol am schwarzen Meer zu entkommen. Es scheint ein Wunder zu sein, dem Vernichtungswillen der Invasoren auch nur ein paar Leben abzutrotzen. Unvorstellbar, was sie durchgemacht haben. Und wie das Erlebte sie für den Rest ihres Lebens verfolgen wird.

Sie erwarten mich immer wenn ich ins Kunstmuseum der Stadt komme. Mit grossen Händen und nackten Füssen und Gesichtern, die ebenso ausdrucksstark wie leer sind, stehen sie im Innenhof, als warteten sie darauf, dass ich mich zu ihnen stelle. Um ihre Hälse und Hände wurden Stricke gelegt. Manchmal gehe ich um sie herum und versuche ihnen in die Augen zu schauen. Sie sind so gross und gleich wie ich und die anderen Besucherinnen und Besucher, die kommen und gehen.

Im Jahr 1346 überquerte der englische König Eduard III. den Ärmelkanal und überfiel die französische Küstenstadt Calais. Sie wehrte sich und wurde fast ein Jahr belagert und beschossen. Schliesslich war die Lage hoffnungslos. Sechs Bürger sollen sich barfuss, im Hemd und mit einem Strick um den Hals zu Eduard III. geschleppt haben, um ihm den Schlüssel der Stadt zu übergeben und ihr Leben im Tausch gegen eine Verschonung der verbliebenen Bevölkerung anzubieten. Gerührt, soll die ebenfalls anwesende englische Königin, Philippa von Hagenau, ihren Gemahl zu einem Akt der Gnade überredet haben. Über den Hafen von Calais konnten die Engländer fortan ungehindert Truppen nach Frankreich schaffen. Und für das reichste Land Europas begann das dunkelste Jahrhundert sener Geschichte – später der Einfachheit halber der ‚Der Hundertjährige Krieg‘ genannt, obwohl er insgesamt sogar 116 Jahre dauerte.

Die Stadt Calais beauftragte Auguste Rodin 1885 mit einem Denkmal für diese sechs Bürger von Calais. Die Aufstellung zog sich schliesslich hin, auch weil dem Künstler zunächst vorschwebte, diese Mitmenschen nicht, wie damals bei Denkmälern üblich, auf einen Sockel zu stellen und über die anderen zu erheben, sondern ebenerdig mitten unter die Zeitgenossen. In Calais kamen sie schliesslich doch auf einen mittleren Sockel. Erst nach Rodins Tod realisierte man seine ursprünglichen Idee. Ich bin froh, dass sie bei uns ebenerdig stehen und uns erwarten. Denn wir sollen uns dazu stellen, unter sie mischen, uns in sie versetzen und erkennen, dass es Menschen sind wie du und ich.

Heute ist Calais der Sammelpunkt der Flüchtlinge, die es in die Festung Europa geschafft haben und nun noch weiter auf die Festung der britischen Insel wollen. Die Geschichte wiederholt sich, wird oft gesagt. In den USA hörte ich mal einen Historiker sagen, dass die Geschichte sich vielleicht nicht wiederholt, jedoch reimt. Weil sie eben von Menschen gemacht wird. Und Menschen Reimen - man denke nur an die Schnitzelbänke - nur schwerlich widerstehen können.

Mag sein, dass es für die Bürgerinnen und Bürger von Mariupol in Zukunft auch mal ein Denkmal geben wird. Das hängt bestimmt an der Zukunft, die der Stadt beschert ist. Zu fürchten ist zurzeit eher, dass es Denkmäler für die ruhmreichen russischen Soldaten geben wird. Auch die Denkmalgeschichte wird von den Siegern geschrieben. Doch man könnte ein Denkmal für die unsäglichen Opfer ja auch bei uns in der Stadt aufstellen, wenn es dort nicht möglich ist. Entscheidend ist auf jeden Fall, dass wir uns zu ihnen stellen, unter sie mischen, in sie versetzen und erkennen, es sind Menschen wie du und ich.

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

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