Maultierperspektive

Was ich alles weiss, wovon meine Grosseltern noch keine Ahnung hatten: Telefonieren übers Internet. Eine Skibindung einstellen. Nachhaltig einkaufen. Eine Guacamole machen.
Und was ich alles nicht mehr weiss, wovon meine Grosseltern grosse Ahnung hatten: Stachelbeeren einmachen. Eine Leiter zimmern. Am Ruf des Tiers im Stall hören, wenn was nicht in Ordnung ist. Beim Gemüsepflanzen den Boden und den Himmel lesen.
Die ganz andere Welt, scheinbar Flugstunden entfernt, sitzt in Wirklichkeit näher, als ich denke.

Harrys Mutter kauft ein Maultier. Sie sind arm. Die $20, die sie für Pete bezahlt, sind ein kleines Vermögen. Pete bleibt alle hundert Meter stehen. So wie Maultiere manchmal einfach stehen bleiben. Scheinbar grundlos. Sie kann machen, was sie will. Erst nach eine Pause geht es weiter. Die nächsten hundert Meter.

Harry erzählt, dass Maultierhändler damals Meisterkenner ihre Tiere waren. Sie konnten das Alter eines Tieres mit einer Genauigkeit von ein bis zwei Jahren schätzen. Bis fünf verlieren Maultiere jährlich zwei Zähne. Soweit war es einfach. Danach musste man die verbleibenden Zähne genauer anschauen. Beim Kauen mahlen die Maultiere die Höcker auf den Zähnen ab bis sie mit rund 10 Jahren das werden, was die Bauern ‚ebenmäulig‘ nennen. Anschliessend mahlen sie die Zähne immer weiter runter und es wird immer schwieriger, das Alter nach ihnen zu schätzen. Es sei denn, du bist eben ein Maultiermann, der das Alter auch an der Haltung der Hinterbeine, am Gang, an der Steifheit der Gelenke, an wunden Stellen, an der Farbe des Fells und daran, ob das Tier ausschlägt, abschätzen kann.

Nun zog der Maultierhandel (wie der Autohandel heute) mit den Fachleuten auch Betrüger an. Um das Alter der Maultiere zu frisieren, gab es spezielle Munddoktoren bzw. Maultierzahnärzte, die gegen ein kleineres Entgelt mit Bohrern und Feilen die Zähne so behandelten, dass sie jung aussahen. Für Laien war es unmöglich, Alter und Lebenserwartung des Tier noch abzuschätzen.

Harry hätte der Bruder meines Vaters sein können. Nur wurde er in Georgia im Süden der USA geboren, mitten in der grossen Depression. Was für seine Familie das Maultier war, war für meine selbstversorgenden Grosseltern die Kuh und das Schwein im Stall oder dann bald mal der Einachser, mit dem sich mähen, ernten, heuen und am Sonntag ins Nachbardorf fahren liess. Was für eine andere Welt. Erst gerade noch da.

Übrigens stellte sich später heraus, weshalb Pete alle hundert Meter Pause anhielt und sich eine Weile weigerte, weiter zu gehen. Der vorherige Besitzer war achtzig Jahre alt gewesen und war jeweils nach hundert Meter ausser Atem oder die Hüfte schmerzte so, dass er eine Pause einlegen musste. Der Rhythmus des alten Mannes war zu Petes zweiter Natur geworden.

Die Geschichte erinnert mich an den Esel Bileam in der Bibel. Er sah, was sein Besitzer nicht sehen konnte. Während dieser nur Starrsinn sah, sah der Esel, wie ein Engel ihnen den (falschen) versperrte. Der Mensch schlägt in seiner Ohnmacht auf das Tier ein. Altes Menschenrezept: Und bist du nicht  willig, so brauch ich Gewalt (Goethe; Erlkönig). Das Tier ist weiser und weitsichtiger und sagt: Was habe ich dir getan, dass du mich schlägst? (Numeri 22)

Ich hoffe, Harrys Mutter konnte sich auf die Petes Lebensweisheit einlassen. Bestimmt konnte ihr Pete so auch länger zu Diensten sein.  Alter ist eines. Pause das andere. Gewalt macht blind.

(Bei Harry handelt es sich um Harry Crews. Er erzählt von Pete, den Maultieren und ihren Händlern in seiner Memoir ‚A childhood‘, 1978.)

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

 

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