frisch traurig

Heute ist die Trauer neu aufgebrochen. Die Trauer über den Krieg, die Ungeheuerlichkeiten, zu der Menschen fähig sind, und die unfassbare Vernichtung von Leben. Die Wochenendbeilage der NZZ gibt einer Handvoll gefallener ukrainischer Soldatinnen und Soldaten ein Gesicht und eine Geschichte. Und es geht mir wieder wie in den ersten Tagen dieses Krieges, der schon bald ein halbes Jahr dauert: Ich könnte weinen, auf dem Sofa, mitten am Tage.

In den letzten Tagen und Wochen habe ich mich manchmal gefragt, ob die Trauer erschöpft sei. Das Leben geht weiter. So wie man nicht im Lachen stehen bleiben kann, kann man es auch nicht im Entsetzen. Hat die Seele nur eine begrenztes Mass für Traurigkeit - und eines Tages geht sie aus? Kann der Westen die Solidarität aufrecht erhalten? Kann ich sie aufrecht erhalten - in meinen Gedanken, Gebeten, Gaben, den wenigen Unterstützungen, die mir möglich sind?

Olexandra Anikijewa, Studentin

Olexandra Anikijewa war Studentin an der Polytechnischen Universität in Kiew. Am Institut für Publishing und Printing wollte sie die Kunst des Buchmachens lernen. Sie war 19 Jahre alt, auf dem Papier schon eine Frau, aber auf dem Foto sieht man ein Mädchen, schlank und gross, die Uniform hängt mehr, als dass sie sitzt. Aber Olexandra lächelt, das Gewehr in der Hand. Statt Buchgestalterin wurde sie Scharfschützin. Olexandra wurde am 5. Mai getötet.

Ich weiss, dass jeden Tag unzählige Menschen sterben. Die Nachrichten vesuchen sich manchmal mit Zahlen, um sie dann gleich wieder zu relativieren. Niemand weiss es genau. Doch es ist was anderes, wenn aus den unzähligen Menschen einzelne Menschen werden, mit ihren persönlichen Geschichten, ihrem bisher gelebten Leben. Vor allem aber auch mit den noch ungelebten Möglichkeiten, die in den Geschichten und Gesichtern aufscheinen. Was wäre aus Wiktor, Olha, Roman, Irina noch geworden? Was hätten sie noch alles vor sich gehabt? Noch unter dem Helm hervor schauen sie einen lebensfroh an. Und dann wurden sie von Granaten ausgelöscht.

Semion Oblomei, Gärtner

Ein Freund sagte über Semion Oblomei, dass dieser ein Vorbild war, weil er vorlebte, wie man Veränderungen umsetzt: mit kleinen Schritten, Tag für Tag. Semion war Ökoaktivist, er wollte Baumpfleger werden und hatte in Schweden einen Kurs in Forstwirtschaft abgeschlossen. Zuvor hatte er an der Universität für Lebens- und Umweltwissenschaften studiert. Dann kam der Krieg, und kleine Schritte reichten nicht mehr. Semion meldete sich bei der Armee, kämpfte in Butscha und Irpin, dann ging er an die ukrainische Führungsakademie. Dort verliebte sich Semion. Am 9. Juni heiratete er. 12 Tage später griffen die Russen aus der Luft ukrainische Stellungen in der Nähe von Sewerodnetsk an. Semion Oblomei starb, 22-jährig und verheiratet.

,Sie waren Bäcker, Dichter, OL-Läufer – dann wurden sie ukrainische Soldaten. Nun sind sie tot,' sind die Kurzberichte überschrieben. Ich lese sie. Die Frauen und Männer kommen mir nahe. Und die Ungeheuerlichkeit ihres Verlustes wird schmerzhaft menschlich konkret. 

Täglich kommen zweihundert ukrainische Soldatinnen und Soldaten ums Leben, wird berichtet. Auf der anderen Seite der Front dürften ebensoviele dazukommen. Ich mag nicht daran denken, was dort gerade geschieht, während ich hier im Schatten sitze und schreibe. Die Gleichzeitigkeit von Freud und Leid ist manchmal atemberaubend. (Sie ist irgendwie immer atemberaubend, was mein Privileg fast obszön erscheinen lässt.) Warum geht es uns hier so gut, während es anderen anderswo so schlecht geht? Doch was wäre die Alternative? Solidarität, Dankbarkeit, Engagement... gehen mit durch den Kopf.

Irina Zwila, Schriftstellerin

Irina Zwila, 52, hatte viele Berufe in ihrem Leben. Sie war Schriftstellerin, Lehrerin, Fotografin, Aktivistin. 2014 ging sie freiwillig in einen Kriegseinsatz im Donbass. Bevor sie sich jetzt erneut als Soldatin meldete, schrieb sie an einem Buch, «Stimmen des Krieges. Geschichten von Veteranen». Am 25. Februar wurde Irina bei einem Panzerangriff russischer Truppen am Stadtrand von Kiew zusammen mit ihrem Mann getötet. Das Paar hinterlässt fünf Kinder.

Jesus war rund 33 Jahre alt, als Menschen sein Leben auslöschten. Wenn menschliche Gewalt Geschichte macht, frisst sie ihre Kinder. Er hätte gut in die Reihe der Menschen gepasst, die heute mein Leben berührt haben.
,Was macht denn dieser tote Jesus da am Kreuz?' empörte sich kürzlich ein Bewohner eines Alterszentrums, als wir Gottesdienst feierten, und zeigte auf das katholische Kruzifix, dass das Haus auf dem Tisch bereitgestellt hatte. ,Er ist doch gar nicht dort. Er ist doch auferstanden!'

Heute ist die Trauer neu aufgebrochen. Und das ist gut. Denn Trauer ist Leben - Zusammen leben. Gleichgültgkeit nicht.
Ich trauere um Wiktor, Olha, Roman, Irina und all die anderen, mit und ohne Namen. Möge Gott ihren Seelen gnädig sein. Und meiner Hoffnung, dass ,die Trauernden selig sind, denn sie werden getröstet werden' (Matthäus 5, 4).

Artikel NZZ 23.7.2022

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

sich selbst zum Narren machen

das echte Schneewittchen

Abschaffung des Glaubens