Bühne frei

Wenn ich mich recht erinnere, stammt das Bild, das mir geblieben ist, aus dem Film 28 days later (2002). Ein Mensch irrt durch ein menschenleeres London. Auf dem mehrspurigen Autobahnkreuz, am Themseufer und auf der Trafalgar Square bewegt sich nichts mehr ausser Plastiktüten im Wind. Stumm schreien die Bilder von Tagen, die gewesen sind. Logisch: 28 days later ist ein apokalyptischer Horrorfilm. Irgendwo las ich damals, dass die Tricktechniker tagelang damit beschäftigt waren, alle Menschen, Hunde und Fahrzeuge aus den Aufnahmen auszuradieren. Das Stadtleben liess sich nicht stoppen. Die Filmbilder waren reine Fiktion.

Während des Lockdowns war es einfacher, leere Städte zu fotografieren. Es muss etwa zwei Jahre her sein, da sah ich auf meinem Bildschirm eine Kamerafahrt quer durch Manhattan. Ausser einer Ambulanz, einem Taxi und einem über die vierspurige Strasse streunenden Hund war alles tot. Doch in den Fenstern brannten Lichter. Das Menschensein als universale Solidargemeinschaft.

Um 1900 begann Edgar Atget seine Heimatstadt Paris zu fotografieren. Er wollte die Strassen und Plätze noch festhalten, bevor sie vom Fortschritt mitgerissen wurden. Berühmt wurden seine Bilder auch dadurch, dass sie die Stadt oft menschenleer zeigen. Er muss sehr früh unterwegs gewesen sein und den passenden Augenblick abgewartet haben. Ohne Menschen erscheint Paris überraschend zeitlos. Man stellt sich gleich vor, selber durch die Gassen zu gehen oder als Kind die Tauben auf dem Platz aufzuscheuchen. Obwohl melancholisch motivert - etwas festhalten, solange es noch da ist - , präsentiert Atget seine Stadt als eine Bühne, die nur darauf wartet, dass sie mit Leben gefüllt wird. ,Seht, alles bereit. Kommt und belebt!' Die schlafende Schöne muss nur noch geweckt werden. Der Raum bespielt.

,Die Stadt auf diesen Bildern ist ausgeräumt wie eine Wohnung, die noch keinen neuen Mieter gefunden hat.' (Walter Benjamin)
Eine heilsame Entfremdung stellt sich ein. Man kommt auf den Gedanken, dass die Welt ohne Menschen manchmal besser dran wäre. Und fragt sich, wie man so Mensch sein kann, dass dem nicht so ist. 

Ich schreibe das auf unserem Sitzplatz. Ich sehe auf Bäume und Sträucher und auf einen Rasen, auf dem sich nach der langen Dürre zaghaft erstes Grün zeigt. Ich weiss nicht, wieviele Stunden ich diesen Sommer hier gesessen und auf diese kleine Naturarena geschaut habe. Oft ist sie belebt. Kohlmeisen, Buntspecht, Raben und Tauben machen sich gegenseitig die Äste streitig. Mücken, Bienen und Schmetterlinge vermessen kreuz und quer den Raum oder tanzen übermütig darauf rum. Dann erbern die Nachbarskinder wieder Trampolin und Sandkasten.
Manchmal war und ist aber auch einfach nichts Kreuchendes und Fleuchendes zu sehen. Gespenstisch wirkt das auf mich. Die Bühne ist bereit. Und ich frage mich, wo all das Leben ist.

Als Gott die Welt machte, erzählt die Bibel auf der ersten Seite, dann schuf er in erster Linie Lebensräume - zur Erde, zu Wasser, zur Luft. Er entwarf Bühnen für das bunte Spiel, das kommen sollte. Und dann gebot er dem Leben, diese Räume zu füllen. Es sollte wimmeln wie im Wimmelbuch, der Naturalpenwiese oder auf der Trafalgar Square. Man stellt sich die Schöpfung gern als Aktion Gottes vor. Dabei musste Gott sich ebensosehr zurücknehmen. Der ,alles in allem' war, musste sich bescheiden, damit anderes Raum erhielt und die Bühne frei wurde für Leben, das eigenen Gesetzen und eigenem Willen gehorchte. Das Erste, die Aktion, schaut sich der Mensch gern bei Gott ab. Das Zweite, die Zurücknahme, macht ihm weit mehr Mühe und ist je länger desto dringender.

Vor einer Woche regnete es in der Nacht nach Wochen der Dürre zum ersten Mal. Als ich am Morgen auf den Sitzplatz kam, war eine fette Weinbergschnecke dabei, das braune Stück Erde zu überqueren, das mal Rasen gewesen war. Es traf mich wie ein Trort-Blitz. Wo war sie all die Zeit gewesen? Wie war sie auferstanden?
Der erste Ton auf meinem Handy heute überbrachte mir die frohe Nachricht der Geburt eines Kindes.

Ich lese, dass Häuserschnecken lange Trockenzeiten überleben, indem sie sich in ihr Haus zurückziehen, den Eingang mit einem Schleimpropf verstopfen und dann, wie im Winterschlaf, bei minimalstem Energieaufwand, abwarten. 

Bühne frei für das Leben.

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

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