echt wahr?

Vor 100 Jahren. Ende Juli. 

Karl Barth, der Schweizer Theologe frisch an deutscher Universität, hält an einer Pfarrertagung im heutigen Sachsen-Anhalt einen Vortrag über die 'Not und Verheissung christlicher Verkündigung'. Er fragt sich, weshalb Gottedienstbesucherinnen und -besucher denn überhaupt in die Kirche gehen. Was bewegt sie, sich in die ganze ,groteske Situation des Sonntagmorgens' zu begeben? Offenbar bleibe nach der Woche, nach ,Kirschbaum, Symphonie, Staat, Tagewerk und noch einiges andere' etwas offen, wonach sie suchten.
Doch was? Eine einfache Frage fasst's für Barth zusammen: ,Ob's denn auch wahr ist - die Rede von der Liebe und Güte eines Gottes, der mehr wäre als eines jener freundlichen Götzlein, deren Herkunft so leicht zu durchauen ist, deren Herrschaft so wenig lange währt?'

Vor 80 Jahren. Anfang August.

Die Philosophin, Frauenrechtlerin und Ordensfrau Edith Stein wird mit ihrer Schwester Rosa von der Gestapo in ihrem Karmeliterkloster in den Niederlanden verhaftet, nach Auschwitz transportiert und ermordet.
Zur Frage der Wahrheit hatte sie in einem Brief 1931 geschrieben: ,Es ist Grunde immer eine einfache, kleine Wahrheit, die ich zu sagen habe: Wie man es anfangen kann, an der Hand des Herrn zu leben.'
Sie war Jüdin, Doktorin der Philosphie bei Edmund Husserl und wie Barth entsetzt vom Massentöten des ersten Weltkriegs. Mit vierzehn schreibt sie mal, habe sie sich das Beten bewusst abgewöhnt. Später studiert sia das Leben der Mystikerin Theresa von Avila und lässt sich im selben Jahr, in dem Barth seinen Vortrag hielt, taufen. Sie versteht sich fortan als Jüdin und als Christin. Bei der Verhaftung soll sie zu ihrer Schwester gesagt haben: ,Komm, wir gehen für unser Volk.'

Beiden Geschichten begegne ich über dieses Wochenende. In meinen Gedanken verbinden sie sich. Die Frage 'ob's denn auch wahr', ist nicht nur der Treiber der Kirchenbesucherinnen und -besucher, geht mir durch den Kopf, sondern auch meines Nachdenkens und Berufslebens.
Das Ziel ist nicht eine Antwort. Das Ziel ist nicht, in Form von richtigen Sätzen und Systemen (Bekenntnis, Lehre), die Frage zu kontern. Sondern einen Raum offen zu halten, in dem die Frage weiterhin als solche lebendig an unsere persönlichen und gesellschaftlichen Schalen pochen kann. Denn sie schlägt wesentlich in uns.
Wenn Antwort, dann als handelndes Vertrauen: ,Komm, wir gehen...'

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

Kommentare

  1. Schön, dass Edith Stein endlich (wieder) Beachtung findet. Meine Mutter hat sich vor 30 Jahren intensiv mit ihr befasst und 1994 eine kleine Biografie veröffentlicht. U.a. könnte der Diskurs über Gender von Edith Stein heute vieles aufgreifen, z.B. die Idee der "Eigenartigkeit" und der folglichen "Eigenwertigkeit" der Frau....

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