kulturelle Aneignung

- Dürfen Schweizer Bands mit Dreadlocks Reggea spielen und nichtbeeinträchtigte Menschen auf der Bühne Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung darstellen?
- Ist es noch angebracht, wenn eine deutsche Apotheke den Namen 'Mohren' trägt und schlanke Schauspieler in Fatsuits im Film dickleibige Menschen verkörpern?
- Ist es diskriminierend, wenn ein Musical sich über die Mormonen lustig macht, und nichtmuslimische Menschen von nichtmuslimischen Comedians mit Sprüchen über muslimisches Leben im Westen zum Lachen gebracht werden? (Man ersetze erst ,muslismisch' durch ,jüdisch'...)
- Können ,weisse' Menschen solche mit dunklerer Hautfarbe verstehen, gar vertreten und heterosexuelle homosexuelle oder weitere aus dem sich immer weiter öffnenden LGBTQ+-Spektrum?

Als ob wir nicht schon genug Grossthemen hätten, tobt durch die Medien, Parlamente und Köpfe der Kampf der ,kulturellen Aneignung'. Während die besonders ,wachen' (woken) Teile der Gesellschaft ihre Empörung durch stets weitere Betroffenheitsgruppen nähren, tun konservative Teile dasselbe, indem sie die Redefreiheit (freedom of speech) beschwören, eine Gedankenpolizei an die Wand malen und sich echauffieren: Wo führt das noch hin?

Und dazwischen frage ich mich, manchmal amüsiert, dann wieder besorgt oder einfach verwirrt:
Gibt es eigentlich auch noch ein Dazwischen? Kann man nicht auch beide Seiten verstehen und sich dem Entweder-Oder entziehen? Ist eine Differenzierung noch erlaubt - oder ist sie tatächlich bereits das Problem? Wird die Welt tatsächlich besser, wenn man ganz auf eines der Pferde setzt?

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Die vielleicht älteste 'kulturelle Aneignung' findet sich früh in der Bibel. Diesen Sommer habe ich bei Gelegenheiten begonnen, die Jakob- und Esau-Geschichte zu predigen. Jakob und Esau könnten sich näher nicht sein. Nicht nur sind sie Brüder. Sie sind sogar Zwillinge. Einzig eine Kürzestzeitspanne trennt sie: Esau kam zuerst. Das gibt ihm nach damaligem Brauch ein doppeltes Vorrecht: (1) Das Erbe des Erstgeborenen und (2) den Stammhaltersegen des Patriarchen. Wen wunderts also, dass Jakob mit der Zwei auf dem Rücken nichts sehnlicher begehrt, als diese Privilegien? Seine Mutter, Rebekka, unterstützt ihn dabei tatkräftig.

(1) luchst er seinem Bruder durch das berühmte Linsengricht ab: Ich still deinen Hunger, wenn du meinen stillst. 
(2) erschwindelt er von seinem alten, fast blinden Vater Isaak durch ,kulturelle Aneignung' des Bruders:

Rebekka holte die kostbaren Gewänder Esaus, ihres älteren Sohnes, die bei ihr im Zelt waren. Die zog sie ihrem jüngeren Sohn Jakob an.
Die Felle der Ziegenböckchen legte sie um seine Hände
und um seinen glatten Hals (damit seine glatte Haut sich wie die behaarte Haut Esaus anfühlte).
Jakob ging zu seinem Vater und sagte: »Mein Vater!«
Der erwiderte: »Ja? Wer bist du, mein Sohn?«

Jakob antwortete seinem Vater:
»Ich bin dein erstgeborener Sohn Esau.«
Da sagte Isaak zu Jakob: »Komm doch näher, mein Sohn, damit ich dich betasten kann. Bist du mein Sohn Esau oder nicht?«
Jakob trat an seinen Vater Isaak heran.
Der betastete ihn und sagte:
»Die Stimme ist Jakobs Stimme, aber die Hände sind Esaus Hände.«
Er erkannte ihn nicht.      Genesis 27, 18 - 23*

Ein indianisches Sprichwort besagt bekanntlich, man sollte nicht über einen Menschen urteilen, ehe ich nicht eine Meile in seinen Mokassins gegangen ist. Jakob dürfte nie so sehr in der Haut Esaus gesteckt haben wie in dieser Szene. Mit Fell, Kleidern und verstellter Stimme versuchte er, sich ihn anzueignen. Diese Intimität berührt mich. Hätte er sich doch nur in dieser Haut länger ,umgesehen' und ,umgefühlt'! Er wäre seinem Bruder vielleicht so nahe gekommen, dass er sein Unrecht erkannt und von seinem Handeln abgekommen wäre. Doch was er tat, tat er nicht, um ihn zu erfühlen, sondern um ihn zu bestehlen. Nicht die Aneignung, die Absicht ist es, die die Sache zum Unrecht macht. Die Geschichte erzählt dann auch in der Folge die Konsequenz dieser Absicht. Der frisch Gesegnete ist der frisch Verfluchte. Sein Bruder ist ihm zum Feind geworden. Jakob muss flüchten. Erst Jahre später finden die Brüder wieder zusammen. Jakob kann sich seinen Bruder nur noch als Feind denken. Soweit kann er sich in ihn versetzen. Er muss mit diesem inneren Feind eine Nacht durchringen (Genesis 32). Und trifft dann endlich keinen Feind, sondern seinen Bruder.

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

 

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