Bindestrich

Am kommenden Sonntag ist Ewigkeitssonntag. In unseren reformierten Kirchen gedenken wir der Verstorbenen. Das Kirchenjahr geht zu Ende. 

Ich lernte Frau B beim Tod ihres Mannes kennen. Als sie den Grabstein in Auftrag gab, liess sie unter dem Namen, dem Geburts- und dem Todesjahr ihres Mannes auch gleich ihren Namen und ihr Geburtsjahr samt Bindestrich einmeisseln. Sie besuchte das Grab regelmässig und erzählte immer wieder davon. Sie traf dort nicht nur die Erinnerung an ihren Mann, sondern auch an ihre Vergänglichkeit. Das Leben, ein Bindestrich.

Samuel Taylor Coleridge würde in diesem Jahr 250 Jahre alt. Der Dichter der englischen Romantik ging noch einen Schritt weiter. Er dichtete gleich seine eigene Grabinschrift. Ein Jubiläumsartikel stösst mich darauf. Ich merke, wie ich dafür gleich um mehrere Ecken denken und fühlen muss. Mir aus dem Wo-auch-immer mein eigenes Grab vorzustellen, hat was Gespenstisches. Und auch etwas Teengerhaftes (wütend auf die Eltern stellt man sich vor, wie sie trauern würden, wenn man nicht mehr da wäre). Zur Romantik gehörte beides. Dennoch rührt mich das Gedicht an. Coleridge litt an einer rheumatischen Erkrankung und war von schmerzstillenden Opiaten abhängig. Sein Leben fühlte sich nicht immer nach Leben an (Zeile 5f). Es fällt schwer, von sich selber ein paar Schritte zurückzutreten, geschweige denn aus der Adlerperspektive darauf zu schauen. Es als Übung zu versuchen, lohnt trotzdem.

Ein Bindestrich hat nicht nur was Melancholisches, sondern auch was Entlastendes. 

Grabspruch

Halt, Gottes Kind - Wandrer in Christ, halt ein
Und lies mildherzig: Unter diesem Stein
Liegt, was ein Dichter war, was einst er schien.
O, denk an S. T. C., bete für ihn,
Dass er, der lange Zeit, um Atem ringend,
Tod lebend fand, Leben im Tode finde!
Gnade statt Lob, Erlass der Schuld statt Ruhm
Erhoffte er durch Christus. Gleiches tu!

                                          9. November 1833

(Übersetzung:W. v. Koppenfels)

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch
 
Epitaph 
 
Stop, Christian passer-by!—Stop, child of God,
And read with gentle breast. Beneath this sod
A poet lies, or that which once seemed he.
O, lift one thought in prayer for S. T. C.;
That he who many a year with toil of breath
Found death in life, may here find life in death!
Mercy for praise—to be forgiven for fame   
He asked, and hoped, through Christ. Do thou the same! 
 
                                                 9th November, 1833

Samuel Taylor Coleridge (1772 - 1834)

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