bleiben im Fluss

Jahreswechsel. Das Jahr ändert sich. Einmal mehr. Ich bleibe und gehe durch die Zeit. Besser: Die Zeit geht durch mich. Doch bleibe ich wirklich? Was heisst denn ,Ich bleiben‘ im stürzenden Strom der Zeit?

Identität ist zu einem Leitwort der Gegenwart geworden. Im Zeitalter von Individualisierung, Diversität und Globalisierung ist besondere Sorge zum unverkennbar eigenen Sosein gefordert.

Manchmal frage ich mich, welchem vergangenen Ich ich mal begegnen möchte.  Der Bibliotheken surfende Gymnasiast wäre mir bestimmt sympathisch, der fussballignorante Student abgehoben arrogant, und der Teenager, der sich fragte, ob Metzger das Richtige wäre, ein vollständiges Rätsel. War ich wirklich mal in einem evangelistischen Einsatz in Wien, ohne Wien auch nur ein bisschen anzuschauen? Und eine ganze Weile in die blasse F verknallt?

Meine meisten vergangenen Ichs bis - sagen wir mal - 25, würde ich wohl kaum als solche erkennen.  Erst  wenn dieses Ich seine Geschichte zu erzählen begänne und seine Bekanntschaften aufzählte, käme was näher. Es sind diese Erzählungen und Beziehungen, die uns verbänden und ineinander über führten.

Dafür sind wohl auch die Familientreffen an diesen Festtagen, die Klassentreffen im einstigen Schulhaus und die alten Fotoalben gut: Die disparaten Bruchstücke der eigenen Geschichte in eine größere Erzählung einzufügen. Die persönlichen Veränderungen in ein soziales Kontinuum einzubetten. Womöglich ist Identität viel äußerlicher, als uns lieb ist. Und viel unfassbarer. Viele sagen, mit der neuen Partnerin sei T ein völlig anderer Mensch geworden. T würde das nie sagen. Wer hat nun recht? Vermutlich beide. Was vor allem eines besagt: Dass Identität kein durch die Zeit Gewordenes, sondern ein aus der Zeit Gesehenes ist. (Man könnte von da eine Linie zum Zeitthema der sexuellen Identität weiterziehen.)

Ältere Bilder verglichen den Menschen mit einem Baum: Wurzeln, Stamm, Krone. Neuere sprechen von einem Herbstgewitter. Da gibt es ein Sturmzentrum, dessen Weg sich etwas absehen lässt. Was sich darüber hinaus entwickelt, ist jedoch sehr zufällig und von anderen Einflüssen abhängig.

Das Einzige, was bleibt, ist die Veränderung, sagt man. Das gilt bestimmt auch für die ,Identität‘. Ich würde sagen: Zum Glück. Nicht nur möchte ich nicht mehr in die Haut eines meiner vergangenen Ichs zurück. Auch halte ich mich gerne für weitere Entwicklungen, Lebenssprünge und Zeitlektionen offen und setze mich Einflüssen aus. Segen würde dann bedeuten, dass Gott diesen Prozessen eine gute Richtung gibt. Das hoffe ich auch fürs neue Jahr.

Ich bin, der ich bin, stellt sich Gott dem Mose beim Dornbusch vor. Das hört sich sehr nach einem Identitätssatz an. Manche hören es wohl sogar gesteigert identitär. Die angemessene Übersetzung dieser äußersten hebräischen Verknappung ist allerdings seit jeher Gegenstand der Diskussion. Manche übersetzen: Ich bin der  als den ich mich erweisen oder zeigen werde. Damit wäre auch Gottes Identität keine starr bleibende, sondern eine verändernd und mitgehend bleibende. Davon erzählt Weihnacht unverkennbar. Möge das Neue Jahr auch davon erzählen.

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

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