mitleidlos

Vielleicht bleibe ich hängen, weil es so verwegen ist. In einer Zeit, die nicht empathisch genug sein kann, gleich im ersten Satz das Wort 'mitleidlos' in einem positiven Sinn zu verwenden, ist schön frech. Ein Fishermen's Friend für mein Hirn. Eine Grätsche in meinen Gewohnheitssprech.

,Den Protestantismus liebe ich, weil er so mitleidlos den religiösen Bedürfnissen der Menschen gegenüber ist,' heisst dieser erste Satz. Fulbert Steffensky beginnt so das Vorwort in seinem Buch 'Der Schatz im Acker'. In seinem früheren Leben war Steffensky katholisch. Vermutlich sieht er deshalb schärfer. Und kann mir von halbaussen sagen, was ich so zwar oft empfinde, doch selten auf den Punkt bringen kann. 

Die Nüchternheit des Protestantismus war bei seiner Geburt ein wesentlicher Teil des Erfolgsrezepts. Statt den eigenen torkelnden Bedürfnissen, den vertrauten Strömen der Tradition und den sinnlichen Überwältigungstrategien kollektiver Zeremonien ausgeliefert zu sein, sollte der einzelne Mensch die Freiheit wählen und geniessen, mit kühler Vernunft selbst den Weg zum Glauben zu prüfen und zu finden. Darin lag der tiefe Sinn der Aussage, dass der Glaube Geschenk und Gnade von Gott (und nicht menschliche Bedürfnisbefriedigung) ist.
Im Grunde ist er eine Nüchternheit der Sinne bei gleichzeitigem Überschwang des Geistes.

Diese Überzeugung ist dem Protestantismus inzwischen in grossen Teilen abhanden gekommen. Die Nüchternheit wird weithin mehr als Fluch denn als Freiheit empfunden. Nichts gegen Taufkerzen, Weihnachtsbaum und Bergamottöl. Wenn Zeichen Gutes zeigen, herzu! Doch wenn der Protestantismus unserer Zeit weiterhin einen eigenen gesellschaftlichen Beitrag liefern will, dann wird es nicht der der Wieder-Verzauberung sein, sondern die vom Überschwang des Geistes erfüllte Stimme der Vernunft und des Dialogs. Während er den religiösen Bedürfnissen gegenüber kühl und distanziert bleibt, pflegt er die Völlerei des gemeinsamen Nachdenkens im Licht Gottes und der Zeugnisse seiner Gegenwart. Jedenfalls ist es diese Freiheit, die ich an meinem reformierten Glauben liebe. Und Steffenskys Steilvorlage erinnert mich daran.Was heisst das nun für meine Arbeit?

Den Protestantismus liebe ich, weil er so mitleidlos den religiösen Bedürfnissen der Menschen gegenüber ist. Seine Wallfahrten enden nicht an Gnadenorten, die bevorzugt sind vor anderen Orten. Protestanten mögen wallfahren, aber mehr Gnadenort als den Weg haben sie nicht. (...) Sie können nie in einer Person eine besondere Unfehlbarkeit vermuten. Sie können ihre Wahrheitsvermutungen nicht in das feste System dogamtischer Endgültigkeiten giessen. Ihre Kirchen sind leer, und an ihren Altären gibt es keine Ablässe zu gewinnen. Der Protestantismus ist der Dialekt des Christentums, der entschieden ernst damit macht, das dieses auf einen 'uranfänglichen Mangel' gegründet ist, das leere Grab. Der Protestantismus, wo er sich ernst nimmt, begütigt nicht. Er kommt den Greifbarkeitsbedürfnissen und den Sicherheitsinteressen, die wir in der Religion so oft finden, nicht entgegen. Er fordert das ganze Erwachsensein der Menschen.
(Fulbert Steffensky, Der Schatz im Acker, Stuttgart 2010, S. 9)

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

Kommentare

  1. Christian Vontobel2. Mai 2023 um 02:14

    Es gilt das gesprochene und wohlbedachte Wort, wohlan und wunderbar!
    Auch wenn geschrieben steht, "dogamtischer", dann können wir weiterdenken an "dogamtliischer" oder auch bloss "dogmatischer" Endgültigkeit. Ich freue mich auf solche Predigt 😉😊🙂

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