Gemüsesuppe

Hatices Sohn ist vor einem Vierteljahrhundert spurlos verschwunden. Die Kurdin vermutet den türkischen Geheimdienst dahinter. Das etwas unscharfe Bild des Sohnes vergilbt still an der Wand. Im Traum kommt es immer noch vor, dass er plötzlich vor der Tür steht. Sie weiss jedoch, es ist nicht anzunehmen, dass er noch lebt. 

Am Tag, als er verschwand, kochte die Mutter draussen auf dem Feuer eine käftige Gemüsesuppe. Sie assen sie gemeinsam. Niemand ahnte, was kommt. Seither lässt die Erinnerung Hatice nicht mehr los. Und sie möchte die Erinnerung an den Sohn auch nicht mehr loslassen.

Deshalb kocht sie nun jeden Freitag, den Ruhetag im Islam, diese Suppe und verteilt sie an das ganze Dorf. Der Geschmack ihres Sohnes soll bleiben. Und er gehört allen.

Diese Episode erzählt der Film 'Im toten Winkel' der deutsch-kurdischen Regisseurin Ayşe Polat, der in diesem Jahr in der Berlinale Premiere feierte. Erinnerung geht durch den Magen. Und stiftet Gemeinschaft. 

Ich werde am Samstag wieder Abendmahl feiern. Manchmal kommen uralte Rituale mit einem Mal ganz nah und überbrücken Zeiten und Welten.

Philipp Roth

philipp.roth@kgbb.ch
philipp.roth@erk-bs.ch

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